Virtual Reality hilft bei Essstörungen

Vielversprechender neuer Therapieansatz bei Magersucht – Virtual Reality nimmt die Angst vor der Gewichtszunahme

Tübingen – Essstörungen nehmen weltweit zu. Nach internationalen Daten sind etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung betroffen. Die Essstörung Anorexia nervosa, auch als Magersucht bekannt, betrifft vor allem Mädchen und junge Frauen. Um die nach wie vor langwierige und komplexe Erkrankung erfolgreicher zu behandeln, forscht Professor Dr. rer. nat. Katrin Giel mit ihrem Team am Universitätsklinikum Tübingen zu innovativen Therapieansätzen, die Virtual Reality (VR) nutzen. Neueste Erkenntnisse zu diesem und weiteren psychosomatischen Themen werden im Rahmen des ICPM Weltkongresses für Psychosomatik, der vom 19. bis 21. September 2024 in Tübingen stattfindet, von internationale Expertinnen und Experten unter dem Motto „Advancing Psychosomatic Medicine in a Challenging World” diskutiert.

Untergewicht, Angst vor der Gewichtszunahme und eine verzerrte Körperwahrnehmung, eine sogenannte Körperbildstörung, sind entscheidende Symptome der Anorexia nervosa. „Ein zentrales Behandlungsziel ist, das zum Teil lebensbedrohliche Untergewicht durch Gewichtszunahme zu behandeln“, erläutert Professor Dr. rer. nat. Katrin Giel, Sektionsleitung Translationale Psychotherapieforschung am Universitätsklinikum Tübingen. Für einen Langzeiterfolg sei jedoch vor allem die Therapie der Ängste wichtig, die mit der Gewichtszunahme zusammenhängen. „An dieser Stelle nutzen wir VR – dadurch können die Betroffenen erleben, wie ihr Körper wirklich aussieht, aber auch, und das ist der entscheidende Ansatz, wie sie mit Normalgewicht aussehen könnten“, so Giel. Die VR dient als ergänzende Expositionstherapie und ist Teil eines multimodalen Behandlungsansatzes, der verschiedene Therapiebausteine kombiniert.

VR simuliert eine gesunde Gewichtszunahme

Und so läuft die Expositionstherapie ab: Nach einer ausführlichen Vorbesprechung des genauen Ablaufs und der Begrüßung wird mit einem kurzen Fragebogen gestartet, um den aktuellen Status quo in Bezug auf Körperbild und Erregungszustand zu erheben. Im Anschluss setzen die Patientinnen eine VR-Brille auf und nehmen jeweils einen Controller in die Hand. An Armen und an der Hüfte werden Bewegungstracker angebracht. Nach einer kurzen Kalibrierung sehen sich die Betroffenen in zwei bodentiefen Spiegeln im virtuellen Raum. Durch Sensoren in der Brille werden die Kopfbewegungen und die damit verbundenen Sichtfelder angepasst. „Wir legen mit der Patientin gemeinsam fest, welchen normalgewichtigen Body Mass Index (BMI) ihr virtueller Körper in der VR haben soll. Die wiederholte Exposition ermöglicht es uns und den Betroffenen, sich mit einem deutlich höheren Körpergewicht auseinanderzusetzen. Ein interessanter Effekt ist für viele Patientinnen festzustellen, dass es für sie wider Erwarten gar keinen sichtbaren oder merklichen Unterschied macht, ob der virtuelle Körper 2 kg mehr oder weniger wiegt“, hebt Giel hervor.

Der Avatar hilft, die Angst vor dem Normalgewicht zu verlieren

Bei der VR-Therapie der Anorexia nervosa ist die Immersion entscheidend, also das vollständige Eintauchen in die virtuelle Realität. „Die Patientinnen melden uns zurück, dass sie das Gefühl haben, sich selbst zu sehen und nicht einen Avatar“, beschreibt Giel einen Teil des Wirkmechanismus. Andere Mechanismen müssten noch weiter erforscht werden. Expertin Giel ist jedenfalls von den positiven Effekten überzeugt. „Das Fazit unserer Pilotstudie ist sehr ermutigend“, sagt die Tübinger Forscherin. „Immersion und Exposition mit Normalgewicht führen bei vielen Patientinnen zu einer Abnahme der Angst vor Gewichtszunahme. Dementsprechend verfolgen wir diesen Therapieansatz weiter und werden ihn auch ausbauen“, erklärt Giel.

Einsatzgebiet auch bei Adipositas denkbar

Das Tübinger Team nimmt zurzeit nur Patientinnen mit Anorexia nervosa auf. „Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass auch an Bulimie Erkrankte von der immersiven Exposition profitieren“, erläutert Giel. Der Einsatz von VR und das damit verbundene Erleben eines gesunden Körpergewichts sei zudem bei weiteren Erkrankungen vorstellbar. „Auch wenn Adipositas, also starkes Übergewicht, nicht zu den psychischen Störungen zählt, wäre es durchaus denkbar, dass auch Menschen mit starkem Übergewicht von der Expositionstherapie profitieren“, führt Giel aus. Dann ginge es darum zu motivieren und zu zeigen, wie ein Körper nach Gewichtsreduktion aussehe und nicht darum, Ängste abzubauen.

Beim 27. ICPM Weltkongress für Psychosomatik, der vom 19. bis 21. September 2024 an der Universität Tübingen unter dem Motto „Advancing Psychosomatic Medicine in a Challenging World“ stattfindet, werden im Symposium „What is enhanced psychotherapy?“ neue und innovative Behandlungsansätze in Ergänzung zu bereits etablierten Therapieansätzen vorgestellt und diskutiert. Dazu zählt auch der Einsatz von virtueller Realität zur Behandlung der Körperbildstörung. Weitere Expertinnen und Experten aus 5 Kontinenten erörtern circa 400 Beiträge aus der Psychosomatik. Mehr Informationen zum Kongress finden Interessierte unter: https://www.icpm2024.com

Quellen:

–  https://www.bzga-essstoerungen.de/was-sind-essstoerungen/wie-haeufig-sind-essstoerungen/#:~:text=Die%20Magersucht%20hat%20ihren%20Beginn,sp%C3%A4teren%20Jugendalter%20und%20jungen%20Erwachsenenalter. (abgerufen am 04.09.2024)

–  Lutz, W., Schwartz, B., & Delgadillo, J. (2022). Measurement-based and data-informed psychological therapy. Annual Review of Clinical Psychology.

–   Zipfel S, Lutz W, Schneider S, Schramm E, Delgadillo J, Giel KE. The Future of Enhanced Psychotherapy: Towards Precision Psychotherapy. Psychother Psychosom. 2024 Jun 26;93(4):230-236.

–  Behrens SC, Tesch J, Sun PJB, Starke S, Black MJ, Schneider H, Pruccoli J, Zipfel S, Giel KE. Virtual Reality Exposure to a Healthy Weight Body Is a Promising Adjunct Treatment for Anorexia Nervosa. Psychother Psychosom. 2023;92(3):170-179.