Sorge ums Klima, Sexualität, Selbständigkeit – Jugendliche haben besondere Bedürfnisse
In ihrem zweiten Kindergesundheitsbericht stellt die Stiftung Kindergesundheit dem körperlichen und seelischen Gesundheitszustand der rund 8 Millionen Jugendlichen in Deutschland ein durchwachsenes Zeugnis aus. Die Überlastung von Gesundheits-, Schul- und Jugendhilfesystemen erschwere die Prävention seelischer und körperlicher Störungen. Auch das Thema Klimaangst gewinne an Bedeutung. Großes Potential sieht der Bericht darin, Jugendliche aktiv an der Gestaltung ihrer Gesundheit zu beteiligen.
„Im Jugendalter werden entscheidende Grundlagen für eine gute Gesundheit im späteren Leben gelegt. Dieser Lebensabschnitt ist von massiven psychischen und physischen Veränderungen geprägt. Damit einher gehen spezifische Chancen und Risiken“, erklärt Prof. Dr. Berthold Koletzko, Kinder- und Jugendarzt sowie Vorstand der Stiftung Kindergesundheit. „Dennoch wird der Adoleszenz und den besonderen gesundheitlichen Herausforderungen dieser Lebensphase vergleichsweise wenig medizinisch-fachliche und politische Aufmerksamkeit entgegengebracht. Hier setzt unser Bericht an.“
Der Report umfasst eine breite Palette an Themen der seelischen und körperlichen Gesundheit Jugendlicher und führt die wichtigsten Daten aus Studien der letzten Jahre zusammen. Renommierte Forscher*innen geben einen vertieften Einblick in ihr Fachgebiet. Ziel ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse für die notwendige gesundheitspolitische Diskussion nutzbar zu machen. Darüber hinaus liefern die Autor*innen konkrete Maßnahmenvorschlägen und Lösungsansätze.
Einer der Schwerpunkte ist die mentale Gesundheit junger Menschen. Im Bericht zusammengefasste, aktuelle Studien belegen eine starke Belastung Jugendlicher durch die allgegenwärtige Krisenlage. Auch bei Ernährung, Bewegung, Impfen und Gesundheitskompetenz identifizieren die Wissenschaftler*innen Verbesserungspotential und fordern zum Handeln auf. „Jugendliche haben ein Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung. Alle Akteure der Gesellschaft sind gefordert, die Entwicklungschancen junger Menschen bestmöglich zu fördern. Der Kindergesundheitsbericht 2023 liefert Ideen, wie dies besser gelingen kann“, so Prof. Koletzko.
Unterstützer und Mitherausgeber des Kindergesundheitsberichts 2023 sind gemeinsam mit der Stiftung Kindergesundheit die DFL Stiftung, die Stiftung „Die Gesundarbeiter – Zukunftsverantwortung Gesundheit“, die Krankenkasse vivida bkk, und die Unternehmen MSD Sharp & Dohme GmbH und Novartis Pharma GmbH.
Mentale Gesundheit: Die Adoleszenz stellt eine besonders anfällige Phase für psychische Störungen dar. Typische Risiken bei Jugendlichen sind depressive, Ess-, Angst- und Zwangsstörungen sowie psychotische Krankheiten oder Suchterkrankungen. Die psychische Belastung bei Jugendlichen hat insbesondere während der Covid-Pandemie zugenommen. So ist ein allgemeiner Anstieg von emotionalen Störungen und Suizidversuchen zu verzeichnen. Oft sind es Mädchen, die von schweren Symptomen betroffen sind.
Klimaangst: Klimaangst ist keine psychische Störung, sondern zumeist eine angemessene Reaktion auf die konkrete Bedrohung durch die Klimakrise. Besonders Jugendliche leiden unter Klimaangst, da sie langfristig stärker von den Klimafolgen betroffen sein werden. Bei Einzelnen kann sie auch zu Krankheitserscheinungen führen. Mit Zuspitzung der Klimakrise ist zu erwarten, dass auch die Furcht vor dem Klimawandel und seinen Folgen bei jungen Menschen zunimmt.
Sucht: Suchtstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind ein zunehmendes Problem, das gravierende Auswirkungen auf ihre körperliche und psychische Gesundheit sowie auf ihre soziale Entwicklung haben können. Der Konsum von psychoaktiven Substanzen wie Alkohol und Drogen sowie die übermäßige Nutzung digitaler Medien sind Faktoren, die zu verschiedenen Suchtstörungen führen können.
Geschlechtsdysphorie: Die Zahl geschlechts-nonkonformer Jugendlicher (trans*, genderqueer, genderfluid, nicht-binär, agender) in der klinischen Versorgung nimmt zu. Diese jungen Menschen berichten häufig von koinzidenten psychischen Erkrankungen, psychosozialen Schwierigkeiten und diskriminierenden Erfahrungen im Gesundheitswesen.
Sexualität: Das Thema Sexualität beeinflusst die physische und psychosoziale Entwicklung von Jugendlichen in hohem Maße. Erste sexuelle Kontakte erleben sie heute später als frühere Generationen. Jugendliche verfügen insgesamt über ein profundes Wissen zum Thema Verhütung. Die Zahlen der Teenagerschwangerschaften sind rückläufig. Das Wissen über sexuell übertragbare Infektionen ist jedoch oft lückenhaft.
Impfungen: Viele Jugendliche haben mindestens eine Auffrischimpfung gegen Tetanus, Diphtherie und Keuchhustenerhalten. Die aktuellen Impfquoten bei Jugendlichen zeigen aber die Notwendigkeit, die Impfquoten bei der HPV-Impfung zu steigern. Nur so können die von der WHO und EU gesteckte Ziele erreicht werden, d.h. die Elimination von Gebärmutterhalskrebs durch eine vollständige HPV-Impfserie bei mehr als 90 Prozent der 15-jährigen Mädchen sowie durch die deutliche Erhöhung der Impfungen bei den gleichaltrigen Jungen bis 2030.
Bewegung: Ein großer Teil der Jugendlichen bewegt sich entsprechend den WHO-Zielen deutlich zu wenig. Es hat sich eine „neue Jugend“ etabliert, deren On-Demand-Bedürfnisse die alltägliche Bewegung ebenso wie die bewegten Freizeitangebote mindern. Zwar gibt es im Verein, im Stadtbild und in kommerzieller Hand eine Vielzahl an Sport- und Bewegungsangebote und -anreize, aber es besteht eine große Ungleichheit bei der Nutzung. Für die frühe Jugendphase gibt es gerade dort zu wenig Bewegungsmöglichkeiten, wo das Interesse für den Leistungsvergleich fehlt.
Ernährung: Viele Jugendliche ernähren sich ungesund und verzehren zu wenig Obst, Gemüse, Vollkorn- und Milchprodukte. Gleichzeitig konsumieren sie zu viel Fleisch, Fast Food, Süßigkeiten und zuckerhaltige Getränke. Der Konsum von Energydrinks nimmt ebenfalls zu, insbesondere bei älteren Jugendlichen.
Beteiligung: Es besteht ein dringender Bedarf nach mehr Beteiligungsrechten von Jugendlichen im Gesundheitswesen, um ihre Rechte auf Gesundheit und Selbstbestimmung zu schützen. Jugendliche wünschen sich mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheitsfürsorge. Um sicherzustellen, dass die Wünsche und Bedürfnisse Jugendlicher im Bereich der Gesundheitsversorgung angemessen berücksichtigt werden, müssen junge Menschen gehört, respektiert, umfassend informiert und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
Sozioökonomische Disparität: Der sozioökonomische Status (SES) beeinflusst die Gesundheit von Jugendlichen zwar weniger deutlich als bei jüngeren Kindern oder Erwachsenen, aber soziale Benachteiligung prägt das Verhalten und damit auch das gesundheitliche Risikoverhalten im Jugendalter. Jugendliche mit niedrigem SES ernähren sich schlechter, zeigen eine geringere Lebenszufriedenheit und konsumieren häufiger Tabak und Alkohol. Sie berichten über starken psychischen Stress und verfügen über schwächer ausgeprägte Bewältigungsstrategien als Jugendliche mit höherem familiärem SES.
Gesundheitskompetenz: Schüler*innen in Deutschland weisen eine deutlich schlechtere Gesundheits-kompetenz auf als der europäische Durchschnitt. Fast ein Viertel der Jugendlichen verfügt über zu wenig Wissen im Bereich Gesundheit. Besonders Schulen sind ein wichtiges Setting zur nachhaltigen und effektiven Stärkung der Gesundheitskompetenz. Nötig ist eine länderübergreifende, abgestimmte Strategie zur Gesundheitsförderung in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen.
Der Bericht enthält zu jedem Themenkomplex Handlungsempfehlungen und ist unter https://www.kindergesundheit.
Lara Barbaric, Reihana Barekzai, Prof. Tim Bindel, Priv.-Doz. Dr. Katharina Buhren, Dr. Franziska Feldl, Jana Findorff , Aliya Haid, Karin Klinert, Prof. Berthold Koletzko, Konstanze Löffler, Dr. Dietrich Munz, Dr. Silvia Müther, Prof. Orkan Okan, Anna Philippi, Prof. Ulrike Ravens-Sieberer, Dr. Franziska Reis, Dirk Rennert, Dr. Matthias Richter, Prof. Matthias Richter, Prof. Georg Romer, Dr. Angela Rölver, Theresa Schierl, Prof. Sabina Schutter, Alicia Steffel, Magdalena Tanner, Prof. Heidrun Thaiss, Prof. Rainer Thomasius
Quelle: Stiftung Kindergesundheit
Internet: www.kindergesundheit.de
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