Armutsbedingte schlechte Ernährung verursacht körperliche und geistige Entwicklungsprobleme bei Kindern / Stellungnahme der SNFS an der Uni Hohenheim
2,77 Euro – mit dieser Summe pro Tag sollen Hartz IV-Empfänger ihre Kinder gesund und vollwertig ernähren. Das ist schlicht nicht möglich, mahnen Ernährungswissenschaftler der Fachgesellschaft Society of Nutrition and Food Science (SNFS) mit Sitz an der Universität Hohenheim in Stuttgart. In ihrer aktuellen Stellungnahme warnen sie davor, nur die Kalorien im Blick zu haben. Entscheidend sei vielmehr die ausreichende Versorgung mit allen Nährstoffen. Denn Fehlernährung im Kindesalter könne zu körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen führen – und diese Kinder hätten dann ein höheres Risiko auch als Erwachsene in Armut zu leben. Die Wissenschaftler appellieren an die Politik, diesem Problem mit einem höheren Tagessatz und anderen Maßnahmen zu begegnen.
Kinder brauchen für Wachstum und Entwicklung eine abwechslungsreiche Ernährung. Sie muss genügend Obst und Gemüse, Milchprodukte, Fleisch und Eier enthalten, ergänzt durch Sättigungsbeilagen wie Kartoffeln, Reis und Nudeln. Nur damit kann man sicherstellen, dass die Kinder genügend Energie und Eiweiß, besonders aber Vitamine, Minerale und Spurenelemente zu sich nehmen.
Doch für viele Kinder, auch in Deutschland, ist ein solcher Speiseplan weit von der Realität entfernt. Das Problem: Das Geld reicht nicht für eine gesunde Ernährung. „2,77 Euro für Kinder bis zum 6. Lebensjahr und 3,93 Euro für 6- bis 14-jährige für die tägliche Ernährung im Hartz IV-Satz liegen deutlich unter dem, was man für eine gesunde Ernährung rechnen muss“, erklärt Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Jan Frank, Präsident der Society of Nutrition and Food Science (SNFS). Betroffen seien vor allem Kinder alleinerziehender Mütter mit Hartz IV-Bezug, also derzeit 2,1 Millionen Kinder unter 15 Jahren.
Eine besondere Risikogruppe stellen außerdem Kinder aus Flüchtlingsfamilien dar, betonen die Forscher angesichts der aktuellen Debatte in der Politik. „Diese Kinder sind oft schon seit längerer Zeit schlecht ernährt, weshalb das Augenmerk ganz besonders auch auf sie gelegt werden sollte“, mahnt Prof. Dr. Frank an.
Die Folgen für die Kinder sind fatal: „Es drohen Entwicklungsstörungen, die nicht nur das körperliche Wachstum, sondern auch die geistige Entwicklung betreffen“, warnt Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski, Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim. „Denn wenn gespart werden muss, dann werden vor allem solche Lebensmittel gekauft, die preisgünstig sind, aber auch satt machen.“
Die Sättigungsbeilage wird zur Hauptmahlzeit, fettes Schweinefleisch und billiges Fast Food ergänzen das Menü. „Es gibt zahlreiche Untersuchungen dazu, dass die Qualität eines Lebensmittels, also die Menge an enthaltenen Mikronährstoffen, mit sinkendem Preis abnimmt, während der Energiegehalt zunimmt“, erklärt Prof. Dr. Biesalski. Das Kind werde damit zwar satt, nehme aber zu viel Kalorien und zu wenig Mikronährstoffe auf. „Es kommt zu dem, was wir als ‚double burden‘ bezeichnen: Übergewicht bei unzureichender Versorgung mit Mikronährstoffen.“
Übergewicht ist bei Kindern aus armen Verhältnissen in Deutschland dreimal häufiger anzutreffen als bei Kindern aus Familien mit gutem Einkommen. „Zudem zeigt eine Studie aus Brandenburg, dass Kinder aus armen Familien kleiner sind“, berichtet Prof. Dr. Biesalski. Ein Hinweis auf eine Wachstumsstörung, wie sie vor allem bei einer Ernährung mit zu wenig Mikronährstoffen zu beobachten ist.
Internationale Studien zeigen außerdem, dass Kinder aus Ländern mit hohen Einkommen, die dort in Armut leben, häufiger Entwicklungsstörungen des Gehirns haben. „Besonders betroffen sind Hirnteile, die mit der Entwicklung und dem Gebrauch von Sprache zu tun haben“, erläutert Prof. Dr. Biesalski. Die Einschulungsuntersuchungen des Landes Brandenburg passten in dieses Bild, erklärt der Ernährungsmediziner: „Entwicklungsstörungen der Sprache treten dort bei Kindern aus armen Familien 15-mal häufiger auf als bei Kindern in finanziell gesicherten Verhältnissen.“
Eine Verbesserung der Ernährungssituation würde die Chancen dieser Kinder in Schule und Beruf deutlich verbessern, schlussfolgern die Wissenschaftler. „Ansonsten sind die Kinder im fatalen Kreislauf der Armut gefangen“, so Prof. Dr. Frank.
Um diesen zu durchbrechen, sei jedoch eine Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes unumgänglich, appellieren die Forscher. Denn auch Initiativen wie „IN FORM“, eine Initiative zweier Bundesministerien für gesunde Ernährung und mehr Bewegung, gäben zwar gute Ernährungstipps, die jedoch mit 2,77 Euro täglich nicht umsetzbar seien. „Rund 4 Euro am Tag sind nötig um eine gesunde Ernährung für Kinder unter 6 Jahren zu gewährleisten“, betont Prof. Dr. Frank.
Bei den Politikern mahnt er daher dringenden Handlungsbedarf an: „Die immer wieder geforderten Verbesserungen bei der Ernährung gerade für Kinder in Armut sind dort bisher nicht auf offene Ohren gestoßen.“ Auch Möglichkeiten wie kostenloses Essen in KITAs und Ganztagsschulen könnten einen Beitrag zur Lösung des Problems bringen, meint Prof. Dr. Biesalski. „Damit lernen die Kinder auch gesunde Ernährung kennen – und das Gesundheitssystem spart Kosten für die Behandlung kranker und übergewichtiger Kinder.“
Ausführliche wissenschaftliche Stellungnahme der SNFS
SAVE THE DATE:
4. Hidden Hunger-Kongress an der Universität Hohenheim vom 27.2. bis 1.3.2019
Drei internationale Kongresse zum Thema des verborgenen Hungers in den letzten Jahren an der Universität Hohenheim haben die Fragen der Armut und der damit einhergehenden Ernährungsprobleme gerade bei Kindern dargestellt. Nicht nur die Folgen für die körperliche, sondern auch für die kognitive Entwicklung standen dabei im Mittelpunkt. Diese Kongresse zeigten, dass Armut oft die Ursache für unzureichende Ernährung ist und wie wichtig dies gerade für die kindliche Entwicklung ist. Der 4. Hidden Hunger-Kongress im kommenden Jahr (27.2. bis 1.3.2019) wird dieses Thema erneut aufgreifen.
Mehr Infos: https://hiddenhunger.uni-hohenheim.de
Hintergrund: Society of Nutrition and Food Science (SNFS)
Die Society of Nutrition and Food Science e.V. (SNFS) ist ein im Jahr 2013 gegründeter Zusammenschluss unabhängiger Experten im Bereich Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften mit Sitz an der Universität Hohenheim. Ziel der gemeinnützigen Organisation ist es, Forschung und Lehre in diesem Themenfeld voranzutreiben, neutral und wissenschaftlich fundiert Stellung zu kontroversen Themen und aktuellen Publikationen zu nehmen sowie dem Verbraucher fachlich korrektes Wissen zu Ernährungsthemen zur Verfügung zu stellen.
Homepage: http://www.snfs.org/
Weitere Informationen
SNFS-Stellungnahme zur PURE-Studie
Pressemitteilung Ernährungslage bei Flüchtlingen
Quelle: Universität Hohenheim
Internet: https://www.uni-hohenheim.de
Text: Elsner
Bild/er: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0
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