Schweigen kann in bestimmten Situationen als eine Sprechangst gewertet werden, die sich verselbstständigt hat. Die Störung wird zu den Angststörungen gezählt und auch häufig von sozialer Ängstlichkeit begleitet. Daneben können gleichzeitig sprachliche Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Ausprägung auftreten.
Manche Kinder sprechen unter bestimmten Bedingungen nicht, obwohl sie in anderen Situationen durchaus altersgerecht kommunizieren können. Spricht ein Kind länger als vier Wochen im fremden und außerfamiliären Umfeld nicht, sollten Eltern sich diesbezüglich mit einem Kinder- und Jugendpsychiater austauschen. Bei diesem Phänomen kann es sich um eine behandlungsbedürftige Störung handeln, die auch Elektiver oder Selektiver Mutismus (lat.: mutuus = stumm) genannt wird. „Kinder mit dieser Kommunikationsstörung vermögen typischerweise im vertrauten Kontext unbefangen zu sprechen. Ein konsequentes Schweigen tritt meist nur in fremden, unvertrauten Situationen auf, in denen das Sprechen von dem Kind erwartet wird“, berichtet Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, vom Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP). „Das Schweigen kann in solchen Situationen als eine Sprechangst gewertet werden, die sich verselbstständigt hat. Es handelt sich nicht um willentliches Schweigen als Provokation oder aufgrund mangelnden Wissens. Die meisten wollen sprechen, aber die Angst ist größer als der Wunsch zu sprechen.“ Die Störung wird zu den Angststörungen gezählt und auch häufig von sozialer Ängstlichkeit begleitet. Daneben können gleichzeitig sprachliche Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Ausprägung auftreten.
Das Schweigen muss sich nicht direkt auf eine Person beziehen, sondern kann auch in bestimmten Räumlichkeiten oder ab einem bestimmten Grad der Exponiertheit bzw. der Sprechleistungsanforderung auftreten. Manchmal berichtet ein Elternteil, als Kind genauso gewesen zu sein. Weil betroffene Kinder im Elternhaus und in der Familie meist keine Probleme beim Sprechen haben, bleibt die Störung in vielen Fällen unbehandelt. „Eine frühzeitige Hilfestellung ist wichtig, da die Symptomatik ohne Behandlung oft Jahre besteht, so dass die Kinder oft unnötig schlechte Schulnoten wegen mangelnder mündlicher Beteiligung am Unterricht erhalten und sich nicht in altersgerechter Weise mit fremden Erwachsenen unterhalten können“, betont der Kinder- und Jugendpsychiater.
Zunächst wird in der Regel gemeinsam mit den Eltern abgeklärt, unter welchen Bedingungen das Schweigen bei den Kindern auftritt. „Zunächst muss eine aus dem Empfinden des Kindes „sichere“ Umgebung für das Kind geschaffen werden. Ein wichtiger Ansatzpunkt bei der Therapie ist, dass die Kinder die eigenen psychischen und körperlichen Mechanismen beim Schweigen erkennen und lernen, diese zu beeinflussen. Durch eine interaktive Körpersprache und Aufbau von Vertrauen kann das Kind behutsam dazu angeleitet werden, seine sprachlichen Defizite nach und nach zu überwinden“, erklärt Dr. Spitczok von Brisinski. Allmählich muss auf rein nonverbale Kommunikation zugunsten verbaler verzichtet werden. Das Ignorieren der nonverbalen Reaktionen in bestimmten Situationen sollte aber erst beginnen, wenn das Kind bereits mehrere Male in dieser Situation verbal reagiert hat und dieses Verhalten seit mindestens 1 Woche zeigt, denn das Kind muss sich ja im Gebrauch der Sprache „sicher“ genug fühlen. Andererseits führt eine zu lang akzeptierte rein nonverbale Kommunikation nicht zum Erfolg. Solche Therapien werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Je früher eine zielgerichtete Therapie beginnt, desto besser ist die Prognose für die Kinder. Auch eine zusätzlich medikamentöse Behandlung der Sprechangst mit Fluoxetin kann hilfreich sein.
Als Risikofaktoren gelten Störungen der Sprachentwicklung, ein ängstlich-sensible Persönlichkeit, Schweigen bei Verwandten 1.-3. Grades sowie Zweisprachigkeit. Etwa 0,7 bis 1 Prozent der einsprachigen Kinder sind von Selektivem Mutismus betroffen. Bei mehrsprachigen Kindern oder geflüchteten Kindern, die ihr Heimatland auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung, Krieg, Hunger, Klimawandel oder anderen Bedrohungen verlassen haben, wird ein höherer Anteil vermutet.
Quelle: www.kinderpsychiater-im-netz.org
Bild/er: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0
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