Stiftung Kindergesundheit: Die rechtzeitige Behandlung von Strabismus erhält die Sehkraft und sorgt für bessere Lebensqualität
Ob ein Kind ein Leben lang gut oder schlecht sehen wird, entscheidet sich meist schon im frühen Babyalter. Sehstörungen und Augenfehler lassen sich fast immer korrigieren, wenn sie frühzeitig erkannt werden. Das gilt insbesondere für das Schielen. Keine andere Augenerkrankung führt so häufig schon in der Kindheit zu einer verminderten Sehleistung, wie der so oft verharmloste „Silberblick“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme der Stiftung Kindergesundheit. Wird der vermeintliche Schönheitsfehler nicht behandelt, droht jedem zweiten betroffenen Kind eine dauernde irreversible einseitige Sehverschlechterung. Wird die Störung dagegen rechtzeitig angegangen, stehen die Chancen überaus günstig: In mehr als 90 Prozent der Fälle wird die Schwachsichtigkeit vermieden und das Schielen geheilt.
Rechtzeitig heißt frühzeitig, und zwar frühzeitiger als man noch vor einigen Jahren geglaubt hat, betont die Stiftung Kindergesundheit mit Nachdruck. Alle Babys, bei denen der Verdacht auf Schielen besteht, oder in deren Familien Schielen vorkommt, sollten schon mit sechs bis zwölf Monaten beim Augenarzt vorgestellt werden. Besteht bei einem Baby nach dem dritten Lebensmonat immer noch eine ständige einseitige Fehlstellung, so sollte eine Frühbehandlung eingeleitet werden.
Das Schielpflaster tut nicht weh
„Diese Behandlung ist völlig schmerzlos und belastet das Baby in einem wesentlich geringeren Maße, als es manchen Eltern erscheinen mag“, so Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Das Ziel der Behandlung ist es, ein so genanntes alternierendes Schielen zu erreichen, also abwechselnd beide Augen zum Sehen zu zwingen. Dazu wird das gesunde Auge entweder mit Hilfe von Atropintropfen in seiner Sehkraft zeitweilig geschwächt oder stundenweise mit einem Pflaster abgedeckt und damit ausgeschaltet.
Ergänzt wird diese so genannte Okklusionsbehandlung durch die Verschreibung einer Brille, um den mit dem Schielen meist gekoppelten Sehfehler – in der Regel eine Weitsichtigkeit – auszugleichen. Die augenärztliche Untersuchung, mit der die richtige Brillenstärke ermittelt wird, ist ebenfalls einfach und schmerzlos.
In vielen Fällen reichen diese Maßnahmen allein schon aus, um das Schielen vollständig zu beseitigen und ein stereoskopisches Sehen zu erreichen. Bei größerem Schielwinkel ist jedoch immer eine Operation notwendig.
Über den richtigen Zeitpunkt dieses Eingriffs gibt es unterschiedliche Ansichten unter den Augenärzten: Während die einen (besonders in den USA) für eine operative Korrektur bereits im Alter von zwei bis zweieinhalb Jahren plädieren, halten die anderen einen Operationstermin zwischen dem dritten und fünften Geburtstag noch für ausreichend. In Deutschland wird die Operation üblicherweise im Jahr vor der Einschulung durchgeführt. So lässt sich vermeiden, dass das Schielen den Schulerfolg behindert.
Wurde früher der Anteil schielender Kinder auf vier bis fünf Prozent geschätzt, weiß man heute, dass in Mitteleuropa zwischen 5,3 und 7,4 Prozent aller Kinder an einem behandlungsbedürftigen „Strabismus“ (so die Fachbezeichnung) leiden.
An dieser Zunahme sind jedoch ausnahmsweise nicht die Umwelteinflüsse Schuld, sondern die verbesserten medizinischen Bedingungen, sagt Professor Berthold Koletzko: Die Kinder- und Jugendärzte schauen heute genauer hin und die Augenärzte können Sehfehler auch schon bei Babys besser erkennen“.
Wie entsteht das Schielen?
Während die Sinneszellen des Auges erst durch die Reifung des Sehnervs mit dem Gehirn „verkabelt“ werden, sind die jeweils sechs Muskeln der beiden Augen (vier gerade, zwei schräge) bereits bei der Geburt voll entwickelt. Das Baby kann seine Augen also in alle Richtungen bewegen. In den ersten Lebenstagen geschieht das meist noch ruckartig und unkoordiniert.
Bei manchen Babys bleibt aber auch danach ein „Engelsblick“ bestehen. Wenn die Synchronisation der sechs Muskeln durch falsche Gehirnimpulse gestört ist, richtet das Kind nur ein Auge auf den fixierten Gegenstand, während das andere Auge abweicht. Dieses Auge oder abwechselnd beide Augen wandern entweder nach innen (das kommt am Häufigsten vor) oder nach außen: Das Kind schielt.
Räumliches (zweiäugiges, binokulares, 3D-) Sehen ist nur dann möglich, wenn die Bilder bei beiden Augen auf die Stelle des schärfsten Sehens, den so genannten „gelben Fleck“ fallen. Beim schielenden Auge ist das jedoch nicht der Fall.
Die Folge: Das Gehirn kann die Bilder aus den beiden Augen nicht zu einem einzigen dreidimensionalen Seheindruck verschmelzen und wird durch Doppelbilder irritiert. Es beginnt deshalb sehr schnell, das vom schielenden Auge übermittelte Bild dauerhaft zu unterdrücken, und schließt dieses Auge vom aktiven Sehen aus. Das arbeitslose Auge verlernt immer mehr das Sehen, es wird schwachsichtig und das Kind ist praktisch einäugig.
Was sind die Ursachen?
Die Ursache des Schielens lässt sich fast nie eindeutig herausfinden. Viele Faktoren können eine Rolle spielen. Am häufigsten ist eine Weitsichtigkeit: Dabei sind die Augen des Kindes um ein winziges Stück zu kurz geraten. Das Gehirn veranlasst deshalb die Augenmuskeln, die Augenlinse stärker zu krümmen, wenn sie scharf sehen soll. Diese Krümmung (die so genannte Akkommodation) bewirkt jedoch gleichzeitig, dass sich beide Augen nach innen drehen.
Auch Virusinfektionen vor und nach der Geburt und Entwicklungsstörungen in diesem Zeitraum können eine Rolle spielen. Deshalb sollten Frühgeborene und andere Risikobabys, bei denen der Verdacht auf eine Entwicklungsverzögerung oder eine Bewegungsstörung besteht, auch auf Schielen und andere Sehstörungen untersucht werden, betont die Stiftung Kindergesundheit. Denn bei jedem zweiten dieser Babys ist auch mit Augenstörungen zu rechnen. Und umgekehrt: Bei schielenden Kindern ist auch eine genaue kinderärztliche Überwachung nötig, damit eventuelle andere Störungen rechtzeitig entdeckt werden.
Ist Schielen erblich?
Schon vor 2400 Jahren meinte Hippokrates, der Urvater aller Ärzte: „Wenn von Blauäugigen Blauäugige gezeugt werden, was hindert da, dass von Schielenden wiederum Schielende gezeugt werden?“ Recht hatte er: Wenn beide Eltern schielen, beträgt die Wahrscheinlichkeit über 50 Prozent, dass ihre Kinder ebenfalls schielen. Sie liegt bei über 20 Prozent, wenn ein Geschwister schielt, und verdoppelt sich bei zusätzlichem Schielen eines Elternteiles.
Früher wurde Schielen lediglich als niedlicher Schönheitsfehler angesehen und erst mit etwa zwölf Jahren operiert. Heute weiß man: Wenn die Krankheit nicht behandelt wird, bleibt das schielende Auge in mehr als 50 Prozent der Fälle mehr oder weniger schwachsichtig. Je früher das Schielen im Leben des Kindes auftritt und je später es behandelt wird, desto schwerer wird die Sehbehinderung sein. Es gibt zwei drohende Folgen: Die Schwachsichtigkeit (Amblyopie) und der Verlust des räumlichen Sehens.
Probleme in der Schule und im Beruf
Menschen, deren 3D-Sehen beeinträchtigt ist, sind im späteren Leben von bestimmten Berufen (besonders im Verkehr, z. B. bei der Bahn oder in der Luftfahrt) ausgeschlossen. Nach aktuellen Untersuchungen kommen aber auch Verhaltensstörungen, Leistungsschwäche, Lese-Rechtschreib-Probleme und Legasthenie bei Kindern mit Schielen oder Sehschwäche häufiger vor.
Schielen kann sogar zu psychischen Problemen führen: Hinter dem erkennbaren „Anderssein“ vermuten viele Menschen fälschlicherweise einen wenig sympathischen Charakter oder halten das Schielen für den „bösen Blick“. So ergab eine Untersuchung in der Schweiz, dass schielende Kinder von Gleichaltrigen viel seltener zum Kindergeburtstag eingeladen werden. Für die Vermittler von Führungskräften („Headhunter“) gilt Schielen als ein schlimmerer Makel als Akne oder fehlende Frontzähne.
Besonders dramatische Folgen gibt es, wenn im späteren Leben das „gute“ Auge durch Unfall oder durch eine Erkrankung geschädigt wird. In diesem Fall muss das schwachsichtige Auge die Hauptfunktion übernehmen. Sein Sehvermögen beträgt meist jedoch höchstens zehn Prozent der normalen Sehleistung, was zu erheblichen Sehproblemen führen kann.
Bei rechtzeitiger Behandlung kann bei mehr als 90 Prozent der Kinder das Schielen geheilt oder zumindest die Schwachsichtigkeit wesentlich gebessert werden. Die frühzeitige Therapie führt in etwa 80 Prozent der Fälle zum normalen oder nur leicht herabgesetzten beidäugigem Sehen.
Bei vielen Schielkindern ist jedoch eine Operation erforderlich, um das Schielen zu beseitigen. Die Chirurgie der Augenmuskeln gilt als ein sehr sicheres Verfahren. Entgegen vielen Schauermärchen wird bei der Operation weder das Auge „herausgenommen“, noch der Augapfel aufgeschnitten, betont die Stiftung Kindergesundheit. Der Arzt öffnet lediglich die Bindehaut, die auf dem Augapfel liegt. Die darunter liegenden Augenmuskeln werden verkürzt oder so versetzt, dass beide Augen möglichst gerade stehen. Danach wird die Bindehaut mit einer hauchfeinen Naht wieder verschlossen.
Die Brille wird weiter benötigt
Eltern sollten wissen: Durch die Operation wird nur die Augenstellung verändert, nicht aber der Brechungsfehler der Augen. Das bedeutet, dass ein Kind, das vor der Operation eine Brille tragen musste, sie in den meisten Fällen auch nach dem Eingriff weiter tragen muss.
Übrigens glauben junge Eltern häufig, bei ihrem Baby ein Schielen zu erkennen – zum Glück meist ohne Grund. Oft entsteht nämlich schon durch einen bei Babys häufig vorkommenden breiten Nasenrücken („Epikanthus“) der Eindruck, dass ein Auge von der symmetrischen Gesichtslinie abweicht. In solchen Fällen sprechen Ärzte vom „Pseudoschielen“.
Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt allen Eltern, sich bei jedem Verdacht auf eine Sehstörung ihres Babys von ihrem Kinder- und Jugendarzt beraten zu lassen und, falls nötig, einen Augenarzt aufzusuchen.
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Quelle: Stiftung Kindergesundheit
Mehr Informationen hierzu finden Sie unter: www.kindergesundheit.de
Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0
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