Ist Übergewicht im Gehirn „vorprogrammiert“?

Essensgerüche rufen bei übergewichtigen Kindern stärkere Reaktionen hervor als bei normalgewichtigen Gleichaltrigen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie. Übergewichtige Kinder haben demnach mehr Schwierigkeiten, Essen zu widerstehen, weil bestimmte Gehirnregionen besonders aktiv darauf reagieren.

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Der Untersuchung zufolge lösen Lebensmittelgerüche Aktivitäten in den Gehirnregionen aus, die auch für impulsives Verhalten und Zwangsstörungen verantwortlich sind, die beispielsweise durch wiederkehrende Gedanken und repetitive Verhaltensweisen gekennzeichnet sind. Das ist nicht bei Kindern der Fall, die ein normales, gesundes Gewicht aufweisen, berichteten die Forscher. Die wissenschaftliche Arbeit stellten Dr. Pilar Dies-Suarez und ihr Team auf dem jährlichen Kongress der Radiological Society of North America (RSNA) vor.

Die Ergebnisse legen nahe, dass Kinder mit Übergewicht nicht in der Lage sind, mit dem Essen aufzuhören, sagte Dies-Suarez. „Deshalb sollte sich die Behandlung von Fettleibigkeit auf die Impulsivität-Kontrolle konzentrieren“, folgerte sie in einer Pressemeldung der RSNA. Doch die Wissenschaftler entdeckten nur eine Verbindung zwischen impulsiven Gehirnreaktionen bei dicken Kindern. Was Ursache und Wirkung ist, sei noch nicht geklärt, schränkten sie ein.

Mithilfe von Kernspinaufnahmen verglichen die Forscher die Gehirnaktivitäten bei 30 Kindern im Alter von 6 bis 10 Jahren. Die Kinder wurden während der Kernspinaufnahmen mit Schokolade, Zwiebeln und einem nicht Essens-typischen Geruch (verdünntes Aceton, ein Wirkstoff in Nagellackentfernern) konfrontiert.

Die Hälfte der Kinder hatte einen Body-Mass-Index (BMI) zwischen 19 und 24, also ein gesundes oder normales Gewicht, und die andere Hälfte hatte einen BMI über 30, was als Fettleibigkeit bzw. Adipositas definiert ist.

Geruch von Nahrungsmitteln löst bei übergewichtigen Kindern scheinbar unkontrollierbares Verlangen aus

Wenn die Kinder mit Übergewicht an der Schokolade oder Zwiebel rochen, erkannten die Forscher Aktivitäten in den Regionen des Gehirns, die an impulsive Entscheidungen beteiligt sind, aber nicht in Regionen, die den Essensimpuls kontrollieren. Wenn die Kinder mit normalem BMI Essen rochen, sahen die Forscher Aktivität in den Teilen des Gehirns, die Genuss sowie Vergnügen regulieren, und an Planung und emotionalen Verarbeitung oder Gedächtnisbildung beteiligt sind.

Die Hirnaktivität bei Kindern mit Übergewicht war – im Vergleich zu den Hirnaktivitäten bei den normalgewichtigen Kindern – auch viel größer, wenn sie die Schokolade und die Zwiebel rochen. Wenn die übergewichtigen Kinder das Aceton unter der Nase hatten, wurden die Teile des Gehirns aktiv, die u.a. für Erinnerungen und Risikobewertung verantwortlich sind. „Dies zeigt, dass Essengerüchen im Gehirn bei diesen Kindern wahrscheinlich nicht wie üblich verarbeitet werden“, erklärte Dies-Suarez.

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass es wichtig ist, Lösungen für Menschen mit Übergewicht zu finden, anstatt ihnen die Schuld für den Zustand zu geben, sagte Dr. Mitchell Roslin, Leiter der Adipositas-Chirurgie am Lenox Hill Hospital in New York City. Diese Studie legt den Autoren zufolge nahe, dass bei Kindern, die übergewichtig sind, unterschiedliche Prozesse ablaufen, die auf unterschiedlichen Verknüpfungen im Gehirn beruhen – „das Gehirn ist anders vernetzt.“. Demnach kann Übergewicht nicht auf einen Mangel an Willenskraft zurückgeführt werden. Stattdessen gibt es biologische Unterschiede, die zu einem kalorischen Ungleichgewicht beitragen.

„Zwanghaftigkeit“ des Essverlangens damit noch nicht bewiesen

Die Teilnehmerzahl ist bei dieser Untersuchung klein, und es bleiben eine Reihe von Fragen offen, kommentierte Dr. Peter LePort, Ärztlicher Direktor des MemorialCare Zentrums für Adipositas in Fountain Valley, Kalifornien, die Untersuchung gegenüber HealthDay. „Diese Studie ist kein Beweis dafür, dass Kinder nicht in der Lage sind, ihren Heißhunger zu kontrollieren“, ergänzte LePort. „Unklar bleibt, welchen Einfluss die elterliche Ernährung hat, wenn Kinder einen BMI von 30 oder mehr erreichen.“

Es müssten Neugeborene beobachtet werden, um die Hirnaktivität von kleinen Kindern zu vergleichen, wenn sie Muttermilch trinken, und dann müssten diese Kinder weiter verfolgt werden, um zu sehen, welche Übergewicht entwickeln und welche nicht, so LePort.

„Ich habe Zweifel, dass dieser Effekt angeboren ist – außer in seltenen Fällen“, vermutete LePort und erklärte, dass die Zunahme von Fettleibigkeit in der Bevölkerung zu schnell von statten gehe, als dass dafür die Evolution eine Rolle spielen könne. Ein mögliches Problem ist, dass Kinder von den Erwachsenen lernen, sich mit Nahrung bei emotionalen Stress zu beruhigen. „Kleinkinder und Kinder brauchen ein gutes Vorbild, von dem sie lernen, wie sie damit gut umgehen können“, ergänzte LePort.

Quelle: HealthDay, Radiological Society of North America (Press Release, Abstract PD201-SD-SUA2, S. 4 der Abstract-Sammlung)

Quelle: Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V.
Internet: http://www.kinderaerzte-im-netz.de

Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0

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