Kinder- und Jugendärzte sind besorgt über den Verfall der Esskultur und machen sich stark für gemeinsames Kochen und Essen in der Familie
Ärzte beschäftigen sich auf ihren Kongressen normalerweise mit wissenschaftlichen Studien und neuesten Forschungsergebnissen. Am Eröffnungstag des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, DGKJ im September 2015 in München geht es dagegen um eine Frage, die seit ewigen Zeiten in jeder Familie gestellt wird: „Was essen wir heute?“. Die wissenschaftliche Fachgesellschaft und die Stiftung Kindergesundheit haben sich gemeinsam zum Ziel gesetzt, Kinder und Jugendliche für das „Selberkochen“ zu begeistern und den Familien den hohen gesundheitlichen Wert des selbst zubereiteten Essens wieder nahezubringen.
Vor den Teilnehmern des Kongresses werden deutsche und türkische Schüler einer achten Klasse aus München gemeinsam mit Profiköchen und prominenten Politikern ein Show-Kochen veranstalten. Sie bereiten unter der Betreuung von Köchen und Diätassistentinnen gesunde Köstlichkeiten zu und zeigen dabei, dass selbst gekochtes Essen gesund und lecker ist und dass Kochen jede Menge Spaß bringt.
Hintergrund für die geplante gemeinsame Kochaktion von DGKJ und Stiftung Kindergesundheit sind die stark veränderten Ernährungsgewohnheiten von Kindern und Familien in den letzten Jahren. „Gemeinsame Mahlzeiten finden in vielen Familien immer seltener statt“, sagt der Gießener Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Klaus-Peter Zimmer, Präsident des diesjährigen DGKJ-Kongresses. „Fertigprodukte verdrängen das selbst zubereitete Essen. Dabei hat der Familientisch wichtige soziale Funktionen. Außerdem ist das Selbstgekochte in aller Regel nachweislich gesünder und schmeckt auch besser“.
„In vielen Familien löst das schnelle Essen zwischendurch immer häufiger die gemeinsamen Mahlzeiten ab“, bedauert auch Hildegard Debertin, Dipl. Oecotrophologin und Generalsekretärin der Stiftung Kindergesundheit. „Bedingt durch die zunehmende Berufstätigkeit beider Elternteile und flexiblere Arbeitszeiten wird es immer schwieriger, gemeinsame Familienzeiten und Mahlzeiten zu koordinieren und zu organisieren“. Die Folge: Im „Hotel Mama“ bleibt immer öfter die Küche kalt. Dabei seien gemeinsame Mahlzeiten aus aktueller gesundheitlicher Sicht extrem wichtig, betont Hildegard Debertin: Kinder, die regelmäßig im Familien- oder Verwandtenkreis essen, werden seltener übergewichtig.
Im Fernsehen wird mehr gekocht als zuhause
Die Entwicklung ist paradox: Fernsehsender zelebrieren Kochen und Essen in zahlreichen Sendungen, Hochglanzmagazine widmen sich dem Thema Essen und Trinken, Bücher über Diäten und ausgefallene Ernährungsformen erreichen hohe Auflagen. Gleichzeitig verliert das gemeinsame Essen zuhause immer mehr an Bedeutung. Burger, Döner, Currywurst und Chips – die neue Esskultur der jungen Generation ist nicht mehr an feste Plätze gebunden. Laut Studien haben viele Haushalte nicht mal mehr einen Tisch, an dem die ganze Familie Platz nehmen könnte.
Das Wissen darüber, was, wie und warum gegessen wird, bekommen Kinder in der Küche und am Familientisch am besten vermittelt, betont DGKJ-Kongresspräsident Professor Zimmer. Die Kinder lernen dabei von den Eltern, was als richtig oder falsch, gesund oder ungesund gilt und was schmeckt und was unbekömmlich ist: „Essen ist weit mehr als nur Sattwerden“, so Professor Zimmer. „Beim gemeinsamen Kochen und Essen lernen Kinder, wie unsere Gesellschaft mit Essen und Tischsitten umgeht und welche große Bedeutung die Auswahl gesunder Lebensmittel und ihre Zubereitung in unserer ältesten gemeinschaftlichen Kulturtechnik haben.“
Der beunruhigende Verfall dieser Kulturtechnik zeigt sich besonders stark bei den Heranwachsenden, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. Für viele von ihnen sind ihre Eltern inzwischen nicht mehr die zentrale Instanz in Ernährungsfragen.
Peergruppen und Vorbilder aus TV-Sendungen sind zu bestimmenden Faktoren des Essverhaltens geworden. Nur noch 26 Prozent der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren nehmen einer Umfrage zufolge mehrmals täglich an gemeinsamen Familienmahlzeiten teil.
Weitere 31 Prozent sitzen zumindest einmal am Tag mit den Eltern am gemeinsamen Tisch. Der Rest kommt seltener zu Tisch: 15 Prozent 2- bis 4-mal in der Woche, 16 Prozent 1- bis 2-mal in der Woche, 7 Prozent 2- bis 3-mal im Monat, 3 Prozent höchstens einmal im Monat und 2 Prozent überhaupt nicht mehr.
Stattdessen stehen Schnellgerichte immer höher im Kurs. Je jünger die Personen, desto häufiger kommen Fertiggerichte auf den Tisch. Sechs von zehn unter 25-Jährigen essen mindestens einmal die Woche bis zu täglich Fertigessen. Sie sind auch die Altersgruppe, die am wenigsten kochen kann und sich grundsätzlich am wenigsten Gedanken über ihre Ernährung macht.
Jugendliche: Vom guten Essen keine Ahnung
Eine soeben publizierte Umfrage unter jungen Engländerinnen und Engländern zwischen 16 und 20 Jahren an den Hochschulen von Lancaster, Newcastle und Durham (veröffentlicht im Journal of Public Health) offenbarte erschreckende Wissenslücken dieser Altersgruppe über Kochen und Gesundheit: Einige betrachteten schon das Erhitzen von Pizza oder Toast mit Käse in der Mikrowelle als „Kochen“. Ein Student hielt FastFood für gesund, weil dort auch Salate im Angebot sind. Mit dem Begriff „Essen zuhause“ wurde nur selten „Kochen“ assoziiert: Die meisten nahmen sich Fertigprodukte vom Supermarkt oder von Imbissbuden mit nach Hause.
Das in der eigenen Küche zubereitete Essen ist in aller Regel gesünder und macht auch weniger dick als Fast Food oder das Essen in Restaurants. Das ist das Ergebnis einer soeben veröffentlichten Studie aus den USA (Eur J Clin Nutr 2015. doi: 10.1038/ejcn.2015.104), für die 18.098 erwachsene Amerikaner befragt wurden.
Verglichen mit dem Essen zuhause wurden in Fast Food-Restaurants 190 Kalorien pro Tag mehr konsumiert, 11 g mehr Fett, 3,5 g mehr gesättigte Fette, 10 g Extra-Cholesterin und zusätzlich 300 mg Natrium in Form von Salz. Für Restaurants mit Bedienung lagen die errechneten Daten ebenfalls höher als das selbst zubereitete Essen: Dort verzehrten die Teilnehmer 187 Kalorien mehr pro Tag, 10 g mehr Fett, 2,5 g mehr gesättigte Fettsäuren, fast 60 g Extra-Cholesterin und über 400 mg mehr Natrium.
Schon von Klein auf in der Küche helfen
An der Zubereitung von Mahlzeiten können schon kleine Kinder beteiligt werden, sagt die Stiftung Kindergesundheit. Vom gemeinsamen Kochen profitieren nicht nur die Essgewohnheiten der Kinder: Das Helfen in der Küche erweitert auch ihr Wissen, fördert ihre Entwicklung und macht außerdem einfach Spaß. Wenn man gemeinsam kocht, spricht man mehr miteinander. Das Kind lernt neue Begriffe und erweitert seinen Wortschatz.
Beim Wiegen der Zutaten und beim Auszählen der notwendigen Mengen wird Rechnen geübt. Brot schmieren, Gurken schälen oder Karotten klein schneiden schult die Feinmotorik. Der Stolz über die eigenen Fähigkeiten motiviert das Kind, das selber zubereitete Essen auch zu probieren. So entwickelt es ein persönliches Verhältnis zu seinem Essen. Was man selber macht, das isst man auch gerne. Das Kind lernt außerdem die Nahrungsmittel in ihrer ursprünglichen Form kennen – ein Wissen, das heute immer mehr verloren geht.
Kleine Kinder helfen oft sehr gerne mi
t: Sie empfinden das Einbeziehen in das Familienleben beim Aufräumen, Kochen oder Einkaufen sie meist noch nicht als Pflicht, sondern als ein Spiel. Eltern sollten das nutzen. Selbermachen macht das Kind selbstständig und auch stolz auf seine Leistung.
Dieses Wissen nutzen auch die von der Stiftung Kindergesundheit zur Gesundheitsförderung entwickelten Programme „TigerKids – Kindergarten aktiv“ und „Die Rakuns – Das gesunde Klassenzimmer“. Beim Projekt TigerKids werden Kita-Kinder spielerisch mit dem richtigen Ernährungsverhalten vertraut gemacht und entdecken die Vielfalt alltäglicher gesunder Lebensmittel. Die Initiative Rakuns bietet Gesundheitsthemen für den Unterricht in Grundschulen und informiert auch die Eltern der beteiligten Kinder über die Vorteile des Kochens und regelmäßiger gemeinsamer Mahlzeiten.
Natürlich gibt es in der Küche auch Gefahren, räumt die Stiftung Kindergesundheit ein. Ein Kind sollte deshalb nie unbeaufsichtigt in der Küche werkeln dürfen. Unter dem schützenden Blick von Mutter oder Vater kann sich die Küche jedoch zu einer Lehrwerkstatt entwickeln, in dem das Kind grundlegende Kenntnisse für seine gesunde Zukunft erwirbt – und dabei auch Spaß hat.
Mit dem Thema „Kinder und Kochen“ befassen sich zwei weitere Veranstaltungen des DGKJ-Kongresses: Zur Eröffnung des Kongresses werden die Preisträger des diesjährigen Schüler-Kunstwettbewerbs „Essen in Hessen“ durch den Hessischen Sozialminister Stefan Grüttner ausgezeichnet. Es findet außerdem eine Bildpräsentation der Initiative der Kunsthalle Bremen statt: „ESS-KUNST. Gesundheitsförderung und kulturelle Bildung für Kinder“.
Informationen zu den Sonderausstellungen des Kongresses finden Sie unter: http://www.dgkj2015.de/rahmen-und-begleitprogramm/sonderausstellungen.html
Zum Kongress werden rund 3.000 Kinder- und Jugendärzte in München erwartet.
Quelle: Stiftung Kindergesundheit
Internet: www.kindergesundheit.de
Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0
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