Die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) ist die häufigste Krebserkrankung im Kindesalter
Innerhalb der Erkrankung können verschiedene Formen auftreten, die sich durch bestimmte Veränderungen im Erbmaterial der Leukämiezellen unterscheiden. Dank intensiver Forschung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten für die meisten Formen der ALL die Überlebenschancen für Kinder deutlich verbessert. In einem Verbundprojekt fünf deutscher und einer Schweizer Institution ist es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gelungen, eine bislang als unheilbar geltende Form der Leukämie genetisch zu entschlüsseln und Hinweise für Therapiemöglichkeiten zu bekommen. Die Ergebnisse der Studie erschienen am 27. Juli, in der renommierten Fachzeitschrift Nature Genetics.
Ein Wolf im Schafspelz
Bei einer bestimmten, glücklicherweise seltenen Form der ALL ist das Erbgut der Leukämiezellen so verändert, dass zwei bestimmte Gene, TCF3 und HLF, fehlerhaft zusammengelagert sind (TCF3-HLF-positive Leukämiezellen). Leukämien mit dieser Veränderung im genetischen Code sind resistent gegenüber allen gängigen Therapieoptionen. In einem Verbundprojekt analysierten Forscherinnen und Forscher von sechs Institutionen, koordiniert von Professor Andre Franke, Institut für Klinische Molekularbiologie der CAU und Professor Martin Stanulla, MHH, das Erbgut TCF3-HLF-positiver Leukämiezellen. Sie fanden heraus, dass bei dieser bestimmten ALL-Form zusätzlich zu den zwei fehlerhaft zusammengelagerten Genen noch andere DNA-Bereiche regelmäßig verändert sind. Die betroffenen Bereiche steuern die Entwicklung ganz bestimmter Abwehrzellen des Blutes, sogenannter B-Lymphozyten, und fördern das Zellwachstum. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die so entstehenden “Fehlerkombinationen“ nicht zufällig vorliegen“, sagt Franke. „Sie wirken so zusammen, dass sie vorteilhaft für die Krebszelle sind.“ Im Zusammenspiel erlaubt diese Fehlerkombination eine bislang nicht wahrgenommene Rückentwicklung der Leukämiezellen auf eine sehr frühe, stammzellartige Entwicklungsstufe, die man den Zellen von außen nicht ansehen kann. „Man könnte diese Form der Leukämie auch als eine Art “Wolf im Schafspelz“ bezeichnen“, betont Stanulla.
Forscherinnen und Forscher im Universitätskinderspital Zürich, unter Leitung von Professor Jean-Pierre Bourquin, entwickelten zusätzlich ein Modell, um therapeutische Substanzen auf ihre Wirksamkeit zu testen. Von etwa hundert getesteten, zum großen Teil neuartigen Medikamenten, zeigten einige eine sehr starke Wirkung auf TCF3-HLF-positive Leukämiezellen. Insbesondere ein getestetes Medikament, Venetoclax (ABT-199), führte im Modellsystem zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankung, gefolgt von langanhaltenden Phasen ohne Krankheitszeichen, wenn es in Kombination mit einer herkömmlichen Chemotherapie für Leukämien verabreicht wurde. Bourquin sagt: „Die Ergebnisse der durchgeführten Medikamententests stimmen uns sehr hoffnungsvoll. Nun müssen wir in klinischen Studien zügig prüfen, wie die Ergebnisse des Verbundprojekts zukünftig für die Leukämiebehandlung optimal genutzt werden können.“ Die Ergebnisse tragen dazu bei, den Erkrankungsverlauf der aggressiven Leukämie besser zu verstehen. Durch die Muster der Veränderungen im Erbgut, die die Forscherinnen und Forscher entschlüsselt haben, können sie aber auch Rückschlüsse auf Entstehungsmechanismen der Erkrankung ziehen. Hierüber erhalten sie neue Ansatzpunkte darüber, wie diese Veränderungen entstehen und welchen Einfluss Umweltfaktoren, zum Beispiel Niedrigstrahlung, hierbei haben könnten.
An dem Projekt waren zu gleichen Teilen Forscherteams der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Medizinische Hochschule Hannover (MHH), des Europäischen Labors für Molekularbiologie (EMBL) Heidelberg, des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik Berlin, der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und der Universität Zürich beteiligt. Gefördert wurde das Verbundprojekt durch das Bundesamt für Strahlenschutz im Rahmen des Umweltforschungsprogramms des Bundesumweltministeriums sowie den Schweizerischen Nationalfonds (SNF). „Unsere gemeinschaftliche Arbeit zeigt das große Potential von koordinierten, interdisziplinären Forschungsansätzen und der Anwendung neuester technologischer Möglichkeiten für die Krebsforschung“, sagen Stanulla und Bourquin. Wichtig sei eine gute nationale und internationale Zusammenarbeit in der Leukämieforschung insbesondere, da Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch immer weitergehende Entschlüsselung des Erbgutes die Erkrankungen besser verstehen. „Wenn wir für kleine Patientengruppen systematisch neue Therapieoptionen entwickeln möchten, geht das in unserem Bereich nur in guter Kooperation über Ländergrenzen hinweg“, sagen Bourquin und Stanulla.
Quelle: Medizinische Hochschule Hannover (MHH)
Internet: www.mh-hannover.de
Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0
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