Eine Lobby für die "vergessenen Kinder"

„Alles dran, alles heile“ – die traditionelle, freudige Verkündigung der Hebammen und Ärzte nach einer Entbindung macht alle glücklich: die Mutter und den Vater, die ganze Familie und alle Freunde. Doch was, wenn sie ausbleibt? Wenn der Arzt etwa schon beim Ultraschall plötzlich die Stirn runzelt oder wenn die Hebamme im Kreißsaal auf einmal besorgt dreinschaut, weil beim Baby doch nicht alles „heile“ ist? Die Eltern geraten in eine belastende, ja erschreckende Situation, wenn bei ihrem Kind vor oder nach der Geburt eine angeborene Fehlbildung diagnostiziert wird. Und das passiert leider öfter als man glaubt, berichtet die Stiftung Kindergesundheit: Jedes Jahr werden in Deutschland rund 50.000 Kinder mit einer „großen“ Fehlbildung geboren.

Ein Netzwerk von zwölf internationalen Gesundheitsorganisationen schlägt nun vor, den 3. März eines jeden Jahres zum „Welttag angeborener Fehlbildungen“ (englisch: „World Birth Defects Day“) zu ernennen. Damit soll die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das bisher vernachlässigte Problem von Geburtsfehlern, ihre Behandlung und die Möglichkeiten ihrer Verhütung gelenkt werden. Die Initiative wird auch von der in München beheimateten Stiftung Kindergesundheit befürwortet.

„Angeborene Fehlbildungen und Syndrome sind die häufigste Todesursache bei Babys und Kleinkindern“, sagt Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Dr. h.c. Berthold Koletzko, Stoffwechselexperte der Universitätskinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. „Die Kinder, die trotz Fehlbildung überleben, müssen häufig komplizierte und belastende Behandlungen auf sich nehmen und bleiben trotzdem von langfristigen und oft lebenslangen Behinderungen bedroht. Sie gelten dennoch als ‚vergessene Kinder’, weil ihre Erkrankungen vergleichsweise selten auftreten und deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung nur wenig Beachtung finden“.

Die Liste möglicher Fehlbildungen und Syndrome ist lang und reicht von Alkoholembryopathie über Down-Syndrom, Gliedmaßenfehlbildungen (wie bei Contergan), Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Polydaktilie (überzählige Finger) bis zu Zystenniere. Trotz der geringen Anzahl der Kinder, die an einer der vielen unterschiedlichen Fehlbildungen erkrankt sind, summiert sich die Zahl der Betroffenen allein in Deutschland auf insgesamt mehrere Zehntausend. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten werden aber angeborene Fehlbildungen in Deutschland bislang nicht systematisch und differenziert bundesweit erfasst. Zurzeit analysieren nur drei Einrichtungen an den Universitäten Greifswald, Magdeburg und Mainz die Daten von lebendgeborenen, totgeborenen oder abgetriebenen Babys mit Fehlbildungen.

Herzfehler an erster Stelle

Die größte Gruppe betrifft das Herz-Kreislauf-System: Jährlich kommen in Deutschland 7.000 bis 8.000 Kinder mit einem Herzfehler zur Welt. Aufgrund von immer besseren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten kann heute ein Teil dieser Erkrankungen bereits im Kindesalter geheilt werden, andere erfordern eine langfristige Nachbehandlung mit wiederholten Interventionen und einer intensiven medikamentösen Therapie.

In der Häufigkeitsliste des „Fehlbildungsmonitorings Sachsen-Anhalt“ an der Universität Magdeburg folgen Fehlbildungen des Zentralnervensystems an zweiter Stelle. Zu ihnen zählen zum Beispiel die sogenannten Neuralrohrdefekte, von denen in Deutschland jedes Jahr etwa 4.800 Kinder betroffen sind. Zu ihnen gehört die Spina bifida.

Die Spina bifida, auch „offener Rücken“ genannt, ist eine der häufigsten Behinderungen bei Neugeborenen. Sie entsteht dadurch, dass in den ersten Wochen der Schwangerschaft die Wirbelsäule und das Rückenmark des Ungeborenen unvollständig ausgebildet werden. Das freiliegende Nervengewebe wird geschädigt und durch das Fruchtwasser zusätzlich angegriffen.

Auch wenn sie gleich nach der Geburt operiert werden, bleiben die meisten Kinder querschnittsgelähmt, inkontinent und auf einen Rollstuhl angewiesen. Bei etwa 80 Prozent entsteht eine zusätzliche Störung des Hirnwasserkreislaufs, es bildet sich ein Hydrozephalus, im Volksmund „Wasserkopf“ genannt. In zwei von drei Fällen wird die Fehlbildung bereits während der Schwangerschaft entdeckt und wegen der zu erwartenden schweren Schädigung des Kindes meist abgebrochen.

Folsäure verringert das Risiko

Heute weiß man: Für die gesunde Entwicklung von Rückenmark und Gehirn des Babys spielt Folsäure eine entscheidende Rolle: Sie kann die Entstehung von Neuralrohrdefekten verhindern. Folsäure ist ein wasserlösliches Vitamin der B-Gruppe, das vor allem in grünen Gemüsesorten (z.B. Spinat) und Getreide vorkommt. Mangelt es an Folsäure während der Frühschwangerschaft, drohen auch andere Gefahren wie zum Beispiel die Entstehung von Herzfehlern oder eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (im Volksmund als „Hasenscharte“ bezeichnet).

Eine ausreichende Versorgung mit Folsäure könnte dieser fatalen Entwicklung vorbeugen und bis zu 70 Prozent aller Neuralrohrdefekte verhindern. Sie ist jedoch im Alltag nur schwer zu sichern. Die zur wirksamen Prävention tägliche Aufnahme von mindestens 400 Mikrogramm (= 4 mg) Folsäure zusätzlich zur normalen Nahrungszufuhr durch Tabletten und angereicherte Lebensmittel wird bei den derzeitigen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der Bevölkerung nur selten erreicht.

Leider werden die seit 20 Jahren bestehenden Empfehlungen der Fachgesellschaften, den Folsäuremangel schon in der Frühschwangerschaft durch die Einnahme von Folsäuretabletten auszugleichen, bis heute nur unzureichend befolgt, beklagt die Stiftung Kindergesundheit. Eine Untersuchung des Fehlbildungsmonitorings in Sachsen-Anhalt ergab: Nicht einmal 30 Prozent der Frauen, die mit der Empfängnisverhütung aufgehört hatten, um ein Baby zu bekommen, nahmen, wie empfohlen, Folsäurepräparate ein.

Information und Hilfe durch Selbsthilfe

Eltern, deren Kind von einer Fehlbildung betroffen ist, sind täglich mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen konfrontiert, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit. Zusätzlich ergeben sich oft weitere Probleme, wie soziale Isolation oder finanzielle Not.

Auch die Suche nach den in der Behandlung der jeweiligen Fehlbildung erfahrenen Spezialisten gestaltet sich manchmal als ausgesprochen schwierig. Oft stellt sich heraus, dass es keine Therapiemöglichkeiten in Wohnortnähe gibt und deshalb weite Wege und ein hoher Zeitaufwand in Kauf genommen werden müssen, um das Kind von einem erfahrenen Experten behandeln lassen zu können. Diese Situation kann überdies mit Problemen bei Kostenübernahmen verbunden sein: Es entstehen zusätzliche finanzielle Belastungen wie z.B. Fahrkosten für den kleinen Patienten und seine Eltern.

Eine wichtige Informationsquelle können die Selbsthilfegruppen von ebenfalls betroffenen Familien sein. Sie sammeln vorhandenes Wissen über die Erkrankung, tauschen sich mit Experten aus und ergänzen dies mit den eigenen Erfahrungen der Gemeinschaft. Der Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen und der Einsatz für die gemeinsamen Belange können dabei helfen, die soziale Isolation zu überwinden.

„Die Behandlungsmöglichkeiten von Kindern mit angeborenen Erkrankungen haben sich in den letzten Jahrzehnten zum Teil erheblich verbessert“, betont Professor Berthold Koletzko. „Ein ‚Welttag der Fehlbildungen’ könnte die vielfältigen Probleme der betroffenen Familien stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken und so für mehr Verständnis in der Gesellschaft für diese oft extrem benachteiligte Personengruppe sorgen“.

Hier gibt es mehr Rat und Hilfe

Kindernetzwerk e.V. – für Kinder, Jugendliche und (junge) Erwachsene mit chronischen Krankheiten und Behinderungen

Kindernetzwerk e.V.
Hanauer Straße 8
63739 Aschaffenburg
info(at)kindernetzwerk.de

www.kindernetzwerk.de
(0 60 21) 1 20 30

Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE e.V.
Kirchfeldstr. 149 (Stadtteil: Friedrichstadt)
40215 Düsseldorf
Tel.: 0211-31006-0
www.bag-selbsthilfe.de

 Quelle: Stiftung Kindergesundheit
Internet: http://www.kindergesundheit.de/

Bild: Pixabay – Lizenz: Public Domain CC0


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