Medikamente sind nützliche Begleiter der Gesundheit: Sie helfen gegen Krankheiten, machen Schmerzen erträglich, heilen oft schwere Leiden. Die Medaille hat aber auch ihre Kehrseite: Falls sie tatsächlich wirksam sind, haben die meisten Arzneimittel auch unerwünschte Nebenwirkungen und ihr leichtfertiger oder unsachgemäßer Einsatz kann gesundheitliche Gefahren heraufbeschwören.
Deshalb sollten Medikamente gerade bei Kindern generell zurückhaltend und nur nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko eingesetzt werden, mahnt die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme.
Aktuelle Daten machen die Größenordnung des Problems deutlich
2011 waren 12,6 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter unter 20 Jahren in der gesetzlichen Krankenversicherung GKV versichert.
2,6 Millionen von ihnen waren mit 0 bis 4 Jahren noch im Säuglingsund Kleinkindalter. Jedem dieser Kinder verordneten die Ärzte im Laufe des Jahres 2011 durchschnittlich 204 so genannte „definierte Tagesdosen“ (DDD) Medikamente auf Kassenrezept.
Für Fünf- bis Neunjährige wurden 92 Dosen, für 10- bis 14-Jährige 76 Tagesdosen verschrieben. Die meisten Kinder bekommen Mittel gegen Husten, Schnupfen, Fieber und Schmerzen, sowie Vitamine und Fluorid gegen Rachitis und Karies verordnet, auf Rang sechs der zehn meistverordneten Kindermedikamente findet sich aber bereits ein Antibiotikum. Laut „Arzneiverordnungsreport 2012“ der AOK erhält in Deutschland jährlich durchschnittlich jedes Kind im Alter bis zu zehn Jahren eine einwöchige Antibiotikatherapie.
Zurzeit sind in Deutschland über 91.000 Arzneimittel auf dem Markt, darunter 26.500 freiverkäufliche Medikamente. Wie häufig Deutschlands Kinder eines dieser Mittel erhalten, geht aus einer Infas-Umfrage im Auftrag der Apothekerorganisation ABDA hervor. Auf die Frage „Hat Ihr Kind in den letzten vier Wochen Medikamente angewendet?“ antworteten 60 Prozent der 3.008 befragten Eltern mit „ja“. 19 Prozent der behandelten Kinder erhielten ein Medikament zur Vorbeugung von einem Arzt oder einer Ärztin verordnet, bei 61 Prozent erfolgte die Verschreibung zur Behandlung eine Krankheit.
43 Prozent der Eltern behandelten ihr Kind jedoch selbst, ohne Rücksprache mit einem Arzt mit einem rezeptfreien Mittel aus der Apotheke.
Nicht jedes „Aua“ braucht ein Medikament!
„Arzneimittel, deren Nutzen nicht wissenschaftlich belegt sind, sollten bei Kindern grundsätzlich nicht eingesetzt werden“ betont Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit: „Durch die Bevorzugung von ungesicherten ‚alternativen’ Heilverfahren kann eine effektive Diagnostik und wirksame Therapie verzögert oder sogar verhindert werden, oft mit tragischen und nicht wiedergutmachenden Folgen für das betroffene Kind“.
Bei harmlosen Beschwerden wie leicht erhöhten Temperaturen sollten Eltern nicht sofort zu Fieberzäpfchen, Säften oder Tropfen greifen, sondern der Selbstheilung des kindlichen Organismus eine Chance geben und ihn mit Hausmitteln wie Wadenwickel oder einem Abkühlbad dabei unterstützen, empfiehlt die Stiftung Kindergesundheit.
Bei Kindern, die trotz erhöhter Temperatur munter sind und normal essen und trinken, müssen keine Maßnahmen ergriffen werden. Steigt die Temperatur aber über 38,5 Grad an, kann der Allgemeinzustand eines Kindes beeinträchtigt werden: Es fühlt sich schlecht, hat Muskel- und Gliederschmerzen, ist appetitlos und quengelig. Wenn das Kind offensichtlich leidet, ist es sinnvoll, das Fieber zu senken.
Die Stiftung Kindergesundheit empfiehlt den Eltern bei der Selbstbehandlung ihres Kindes mit Medikamenten die Beachtung folgende Punkte:
Verwenden Sie nur Präparate, die für Kinder zugelassen sind und bei denen klare Dosierungshinweise auf dem Beipackzettel stehen.
Geben Sie Ihrem Kind niemals Medikamente, die von der Behandlung eines Erwachsenen übrig geblieben sind.
Lassen Sie sich bei der Dosierung des Mittels vom behandelnden Arzt des Kindes oder von einem Apotheker beraten.
Halten Sie sich streng an die vorgeschriebene Dosierung und ändern Sie sie niemals eigenmächtig – viel hilft nicht viel, eher im Gegenteil!
Seien Sie sparsam mit Cremes und Salben und wenden sie nie großflächig an: Wegen der im Bezug zum Körpergewicht weitaus größeren Hautoberfläche von Babys und kleinen Kindern werden Wirkstoffe, aber auch potentiell schädliche Hilfsstoffe (z. B. Alkohol oder Phenole) in höherem Maße aufgenommen als im späteren Alter.
Kinder können farbige Dragees, Tabletten oder Arzneisäfte nicht von Süßigkeiten oder Getränken unterscheiden: Bewahren Sie Arzneimittel deshalb immer außer der Reichweite von Kinderhänden auf.
„Wir Eltern sind unseren Kindern auch in Dingen Vorbilder, in denen wir es gar nicht so gern sein möchten“, sagt Professor Berthold Koletzko: „Nicht nur die Tischsitten werden in der Familie erlernt, sondern auch die Trinkgewohnheiten und der Umgang mit Medikamenten“. Der Mechanismus scheint eindeutig zu sein: Die Kinder beobachten, wie ihre Eltern ihre Alltagsprobleme zu bewältigen versuchen. Wenn die Mutter bei jedem Unwohlsein oder jeder Verstimmung zur Tablette greift oder der Vater zur Flasche, gewinnen die Kinder den Eindruck, dies sei ganz normal – und machen es später genau so.
Kinder brauchen ihre eigene Apotheke
Viele Jahre wurden Medikamente nach dem Motto verschrieben: „Bei Kindern nehme man die Hälfte …“ Das hat sich als falsch und mitunter auch als gefährlich erwiesen:
Stoffwechsel und Wasserhaushalt funktionieren beim Kind oft nach anderen Regeln. Frühgeborene und junge Babys scheiden die Arzneistoffe oft langsamer aus, weil Leber und Nieren bei der Geburt noch nicht ausgereift sind. Der Säuregrad des Magens ist deutlich reduziert, aufgenommene Substanzen passieren langsamer den Darmtrakt. Der kindliche Organismus verteilt und verarbeitet je nach Alter viele Arzneisubstanzen anders als der des Erwachsenen. So haben Neugeborene mit ca. 75 Prozent des Körpergewichtes einen deutlich höheren Körperwassergehalt als ältere Kinder mit nur noch 60 bis 70 Prozent. Auch das Gehirn eines Babys macht mit 13 Prozent einen sehr hohen Anteil des Körpergewichtes aus, im Vergleich zu nur etwa zwei Prozent beim Erwachsenen. Professor Koletzko: „Gleichzeitig ist die so genannte Blut-Hirn-Schranke beim Neugeborenen noch stärker durchlässig. Deshalb erreicht bei jungen Säuglingen ein höherer Anteil vieler Arzneimittel das Zentralnervensystem als bei Kindern und Erwachsenen“.
Das Problem ist: Etwa jedes achte in der ambulanten Versorgung verordnete Medikament ist nicht ausreichend für Babys-, Kinder und Jugendliche im jeweiligen Alter geprüft und zugelassen. Die Situation ist umso problematischer, je jünger das Kind ist und je schwerer es erkrankt. Impfungen und die meisten Hustenmittel sind in der Regel gut untersucht, bei chronischen Krankheiten ist die Lage schon schlechter und in den Krankenhäusern wird die Sache brisant: Für bis zu 90 Prozent aller Medikamente, die man heute zur Behandlung von Kindern in Kliniken benötigt, besteht keine Zulassung für Kinder.
Professor Koletzko: „Die Anwendung eines Medikaments außerhalb seines genau definierten Zulassungsbereiches – Fachausdruck: ‚Off-label’-Anwendung – ist bei Erwachsenen nur in begründeten Ausnahmefällen möglich. Bei Kindern dagegen ist es der seit Jahrzehnten akzeptierte Normalzustand. Solche Arzneimittel sind aber nur an Erwachsenen getestet worden und in ihren Wirkstoffen und möglichen Nebenwirkungen ausschließlich auf erwachsene Patienten ausgerichtet. Das Fehlen der pädiatrischen Zulassung bedeutet zwar nicht, dass diese Medikamente zwangsläufig gefährlich, ineffektiv oder sogar für Kinder absolut ungeeignet sind. Unter ‚Off-label’- Bedingungen’ besteht aber ein erhöhtes Risiko von unerwünschten Wirkungen der medikamentösen Thera-pie, die nicht selten auch unerkannt bleiben“.
Kindermedikamente lohnen sich für Pharmaunternehmen oft nicht
Der Mangel an Medikamenten, die auch für Kinder zugelassen sind, hat vor allem finanzielle Gründe. Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels ist bis zu seiner Marktzulassung mit durchschnittlichen Kosten von bis zu mehr als 1 Milliarde Euro verbunden. Kinder unter 15 Jahren stellen nur 15 Prozent der Bevölkerung dar, damit ist der Markt für Kinderarzneimittel klein.
Um ein Medikament für Kinder zur Verfügung zu stellen, genügt es nicht, die Dosierung herunterzurechnen und vielleicht noch etwas Erdbeeraroma einzuarbeiten. Vielmehr müssen die Medikamente für jede Altersgruppe neu untersucht und ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit in eigenen Studien nachgewiesen werden. Häufig ist auch noch die Entwicklung einer eigenen kindgerechten Darreichungsform (z.B. eines Saftes) erforderlich. Investitionen in die Entwicklung pädiatrischer Arzneimittel lohnen sich daher für die Pharmaunternehmen nur beschränkt, da sie die mit der Entwicklung und Zulassung solcher Arzneimittel verbundenen Kosten kaum refinanzieren können.
Immerhin hat die europäische Gesetzgebung eine deutliche Verbesserung auf den Weg gebracht. Eine Anfang 2007 in Kraft getretene europäische Verordnung sieht nach amerikanischem Vorbild ein System von Pflichten und Anreizen für die Pharmaindustrie vor, wodurch die Entwicklung und Herstellung von kindergerechten Medikamenten und eine vermehrte Untersuchung und Zulassung von Arzneimitteln für Kinder gefördert wird.
Die Verordnung verpflichtet pharmazeutische Unternehmen, Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen, Indikationen („Heilanzeigen“), Dosierungen und Darreichungsformen auch in Studien mit Kindern zu prüfen, sofern das Arzneimittel für die Behandlung von Kindern eine Rolle spielen kann. Seit Mitte 2008 muss daher für die meisten neu zuzulassenden Medikamente ein Prüfkonzept für Kinder mit den Zulassungsunterlagen eingereicht werden. Als Anreiz für die Hersteller gilt eine Verlängerung der Patentlaufzeit um sechs Monate.
Eine Zwischenbilanz über den bisherigen Erfolg der EU-Kinderarzneimittelverordnung fällt allerdings recht mager aus, bedauert die Stiftung Kindergesundheit: In den Jahren 2011 bis 2013 wurden lediglich 52 neue Arzneimittel für Kinder und Jugendliche zugelassen, darunter zehn Impfstoffe. Zurzeit befinden sich weitere 268 Wirkstoffe im Zulassungsverfahren. Dazu kommen noch jährlich hunderte von Kinder-Zulassungen für Generika (Mittel, die Originalpräparaten nachgebildet sind) sowie Zulassungen für Homöopathika und einige andere besondere Formen von Arzneimitteln.
Fazit der Stiftung Kindergesundheit: Medikamente können für Kinder segensreich sein, wenn sie wirklich notwendig sind. Auswahl und Einsatz sollte deshalb wohlüberlegt und mit dem Kinder- und Jugendarzt abgestimmt sein.
Mehr Informationen hierzu finden Sie unter:
www.kindergesundheit.de
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