Erstmals vergleichbare Regionaldaten für Europa: Anstieg nichtehelicher Geburten in Deutschland rapide, aber europaweit nur im Mittelfeld.
Rostock. Immer mehr Paare in Europa werden ohne Trauschein Eltern. Während sich der Anteil nichtehelicher Geburten in Deutschland seit 1960 mehr als vervierfacht hat (1960: 7,6% auf 2010: 33,3%), steht die Bundesrepublik damit lediglich im Mittelfeld eines rapiden Anstiegs in ganz Europa. Dies lässt sich erstmals detailliert an europaweiten Regionaldaten von 1960 bis 2007 belegen, die Sebastian Klüsener, Brienna Perelli-Harris und Nora Sánchez Gassen vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock jetzt in der Zeitschrift „European Journal of Population“ veröffentlichten.
Demnach stieg der Anteil nichtehelicher Geburten in Teilen Skandinaviens, Frankreichs und Großbritanniens mit Zuwächsen von 55 bis über 60 Prozentpunkten seit 1960 weitaus stärker an als hierzulande. Für Deutschland zeigt die Regionalanalyse, wie sehr sich neue und alte Bundesländer unterscheiden: “Die Anteile nichtehelicher Kinder sind heute im Osten mit um 60 Prozent weitaus größer als im Westen mit etwa 20 bis 40 Prozent”, sagt Klüsener. “Die Quoten im Osten waren schon vor 1945 höher als im Westen und stiegen in den letzten Jahrzehnten auch deutlich schneller an.“
Am steilsten bergauf ging es mit einem Plus von 53 Prozentpunkten im Osten Mecklenburg-Vorpommerns (Neubrandenburg) (1960: 11% auf 2007: 64%). Am schwächsten kletterte der Anteil im Osten in Westsachen (Chemnitz), nämlich um 43 Prozentpunkte (12% auf 55%). Das liegt immer noch klar über der West-Region mit dem stärksten Anstieg: Bremen mit 28 Prozentpunkten (7% auf 35%). Schlusslicht beim Anstieg ist in den alten Ländern Oberbayern mit einem Plus von 11 Prozentpunkten (12% auf 23%). Die niedrigsten Werte werden momentan aber im Raum Stuttgart verzeichnet (2007: 18%).
Bisher war es nicht möglich, den Anstieg der außerehelichen Geburten zwischen den europäischen Regionen über einen langen Zeitraum zu vergleichen, da Regionsgrenzen sich verändern. Die Rostocker Forscher unterteilten Europa darum in ein zeitkonstantes Raster von 497 Regionen. Dann berechneten sie für die Jahre 1960, 1975, 1990 und 2007 für jede dieser Regionen den Anteil nichtehelicher Geburten aus den amtlich verfügbaren Daten zu diesen Zeitpunkten.
“Das Bedürfnis, vor der Geburt der Kinder zu heiraten, hat an Bedeutung verloren. Insofern ist das goldene Zeitalter der Ehe eindeutig vorbei”, sagt Geograf Klüsener. 1960, als europaweit noch kaum nichteheliche Kinder geboren wurden, lagen die Quoten in großen Teilen des Kontinents unter 15 Prozent. Zwischen 1975 und 1990 stieg der Prozentsatz in vielen Ländern West- und Zentraleuropas fast sprunghaft an, insbesondere in Großbritannien, Frankreich, Dänemark oder der DDR. Ein Grund könnte sein, dass dort relativ früh politische Reformen alleinerziehende Eltern stark unterstützten oder allgemein der wirtschaftlichen und rechtliche Diskriminierung nichtehelicher Familienformen entgegenwirkten. In anderen europäischen Staaten, die derartige Reformen erst später durchführten, stieg der Anteil nichtehelicher Geburten weniger: etwa in der alten Bundesrepublik, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, Spanien oder Italien.
Inzwischen sind die Quoten zwar fast überall gestiegen. Doch Differenzen bleiben deutlich sichtbar. “Trennlinien zwischen Gebieten mit hohen und niedrigen Raten sind vor allem entlang nationaler Grenzen entstanden“, sagt Sebastian Klüsener. Weil Staaten kulturelle und rechtliche Einheiten bilden, steigen die Raten innerhalb der meisten Länder in allen Regionen mit ähnlicher Geschwindigkeit. Deutschlands Ost-West-Gefälle ist eher eine Ausnahme, die sich vor allem aus den Unterschieden während der deutschen Teilung erklärt. Wie stark nationale Einflüsse sind, zeigt sich dort, wo benachbarte Grenzregionen zweier Staaten sehr verschiedene Quoten haben, obwohl in beiden die gleiche Sprache gesprochen wird und enge wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen bestehen. Dies gilt beispielsweise für die angrenzenden Regionen in Frankreich (hohe Quoten) und der französischsprachigen Schweiz (niedrige Quoten).
(Umfangreiche Daten und Kartenmaterial können auf der zugehörigen Datenseite heruntergeladen werden.)
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