Der Trend zum Kaiserschnitt und seine Folgen fürs Kind

Stiftung Kindergesundheit: Mit der Zunahme der Schnittentbindungen steigt auch das Risiko für Allergien, Asthma, Diabetes und Übergewicht bei Kindern 

Das Licht der Welt, das ein Kind in Deutschland bei seiner Geburt erblickt, ist in jedem dritten Fall der blendende Strahl einer Operationsleuchte. Zurzeit werden bei uns über 209.000 Babys im Jahr mit Hilfe des Skalpells geboren. Laut Statistisches Bundesamt haben die Kaiserschnitte 2010 einen Anteil von 31,9 Prozent an den Geburten erreicht. Damit hat sich die Zahl der Kaiserschnitte in knapp zwanzig Jahren mehr als verdoppelt (1991 lag sie bei 15,3 Prozent) – im Hinblick auf mögliche nachteilige Langzeitfolgen für die Kinder eine beunruhigende Entwicklung, warnt die Stiftung Kindergesundheit.

„Ein wichtiger Grund für die Zunahme der Kaiserschnitte liegt in der Tatsache, dass das Risiko der Schnittentbindung für die Mutter in den letzten Jahren erfreulich abgenommen hat“, sagt Professor Sibylle Koletzko, Haunersche Kinderklinik der Universität München. Früher galt der Kaiserschnitt als großer Eingriff mit gefürchteten Risiken für Blutungen, Infektionen und Thrombosen. Mittlerweile hat jedoch der operative Eingriff seinen Schrecken verloren. „Dennoch liegt die mütterliche Sterblichkeit beim Kaiserschnitt immer noch deutlich höher, als bei der natürlichen Geburt“, betont Professor Koletzko.

Eine große Rolle beim wachsenden Trend zum Kaiserschnitt (medizinisch: Sectio caesarea) spielt das Alter der Mütter beim Kinderkriegen: Immer mehr Frauen bekommen ihr erstes und vielleicht einziges Kind im Alter von über 35 Jahren. Sie haben deshalb den verständlichen Wunsch, bei dieser Geburt „auf Nummer sicher“ zu gehen. In China, wo Eltern nur ein einziges Kind haben dürfen, kommt beinahe jedes zweite Kind per Kaiserschnitt zur Welt.

Während sich Geburtshelfer früher nur dann für einen Kaiserschnitt entschlossen, wenn die Gefahren für Mutter oder Kind durch die natürliche Geburt größer waren als die Risiken eines Kaiserschnitts, werden sie heute oft auch auf Wunsch der Schwangeren tätig. In der latein- und südamerikanischen Oberschicht gehört schon lange zum guten Ton, per Kaiserschnitt zu entbinden: In Brasilien liegt die Sectio-Rate bei 46 Prozent, in wohlhabenden Vierteln sogar bei 75 Prozent.

 

Angst vor Wehen
Auch in der nördlichen Hemisphäre entscheiden sich nicht nur Stars wie Claudia Schiffer und Verona Feldbusch, Victoria Beckham oder Madonna gegen die natürliche Entbindung: Der Gedanke, stundenlange Wehenschmerzen auf sich zu nehmen, erscheint auch vielen anderen Frauen als abwegig. Dabei gibt es heute gute Möglichkeiten, die Wehenschmerzen sehr wirksam zu lindern.

Andere Schwangere möchten ihre Beckenmuskeln nicht den Strapazen einer Geburt aussetzen. Sie fürchten die möglichen Komplikationen einer normalen Entbindung: Die vaginale Geburt kann bei einigen Frauen zu einer Schädigung des Beckenbodens mit belastenden Langzeitfolgen führen.

Eine geplante Schnittentbindung hat überdies für Geburtshelfer und Entbindungsklinik Vorteile: Die Geburt kann zu einem festgelegten Termin stattfinden, niemand muss mitten in der Nacht oder am Wochenende in den Kreißsaal gerufen werden. Für die Krankenkassen aber wird es teurer: Für die operative Entbindung zahlen die Kassen an die Klinik etwa doppelt so viel wie für eine natürliche Geburt.

 

Fehlende Reize, falsche Keime
Was teurer ist, muss aber nicht auch besser sein, warnt die Stiftung Kindergesundheit. Im Gegenteil, bei einer Schnittentbindung fehlen wichtige natürliche Reize für den Organismus des Babys, was nicht nur in den ersten Lebenswochen zu zahlreichen Gesundheitsproblemen führen kann, sondern auch Risiken fürs spätere Leben mit sich bringt.

Die Stiftung Gesundheit nennt dazu Erkenntnisse aus den letzten Jahren:

Der Darm des Babys ist im Mutterleib noch frei von Keimen, er ist steril. Erst bei der Geburt kommt er mit den Keimen der Umwelt in Berührung. Bereits während das Baby den Geburtskanal passiert, werden seine Haut, Nägel und Haare mit nützlichen Mikroben der Darm- und Vaginalflora und der Haut seiner Mutter besiedelt. Die Besiedlung mit diesen Mikroben – darunter Escherichia coli, Enterokokken und Laktobazillen – spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Immunsystems. Die sich nach der Geburt und während der Stillzeit entwickelnde individuelle Zusammensetzung der kindlichen Darmflora bleibt lange relativ stabil.

Soweit die Situation beim spontanen, natürlichen Geburtsverlauf. Bei einem Kaiserschnitt ist das Baby dagegen zu allererst den Hautkeimen des OP-Personals und der Mutter ausgesetzt. Das Bakterien-Spektrum der dadurch entstehenden Darmflora unterscheidet sich deshalb deutlich von dem eines vaginal entbundenen Babys. Die Vielfältigkeit der Darmflora ist deutlich geringer im Vergleich zur natürlichen Geburt. Bestimmte, normalerweise das Baby besiedelnde Bakterien wie Bacteroides- und Bifidobakterien sind deutlich vermindert oder fehlen ganz.

Die möglichen Folgen der Fehlbesiedlung nach Kaiserschnittentbindung im Vergleich zur Vaginalgeburt wurden beispielhaft in der großen GINI-Studie untersucht, die am Studienzentrum an der Universität München von Professor Dr. Sibylle Koletzko geleitet wird. Dabei wurden die Daten von 865 gesunden Babys, die nach der Geburt mindestens 4 Monate voll gestillt wurden analysiert und die Entwicklung der Kinder ein Jahr lang verfolgt. 
Beim Vergleich der vaginal geborenen Kinder mit den Kaiserschnitt-Kindern stießen die Wissenschaftler auf überraschend deutliche Unterschiede:

  • Die mit Kaiserschnitt entbundenen Babys hatten im ersten Lebensjahr ein um 46 Prozent erhöhtes Risiko für Durchfallerkrankungen.
  • Ihr Risiko für die Entstehung einer Sensibilisierung gegen Lebensmittel war sogar mehr als doppelt so hoch als nach einer normalen vaginalen Geburt.

Kaiserschnitt-Babys haben außerdem nach ihrer Geburt zwei- bis siebenmal häufiger Atemschwierigkeiten als normal geborene Kinder und müssen deshalb doppelt so häufig auf die Neugeborenenstation verlegt werden.

Geburtsstress – ein sinnvoller Vorgang
Auf dem Weg durch den Geburtskanal wird der Körper des Babys einem immensen Druck ausgesetzt und intensiv massiert. Dieser „Geburtsstress“ schadet dem Kind nicht, sondern hat im Gegenteil positive Folgen: Die Lungenflüssigkeit wird wie aus einem Schwamm ausgedrückt, und es werden Hormone und Nervenbotenstoffe ausgeschüttet, welche die Reifung der Organe beschleunigen.

Auf welche Weise ein kleiner Mensch zur Welt kommt, kann sein späteres Wohl und Wehe maßgeblich beeinflussen, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit:

  • Zum Zusammenhang der Kaiserschnittgeburt mit Asthma liegen Ergebnisse aus 23 Studien vor. Danach haben Kaiserschnittbabys ein um etwa 20 Prozent erhöhtes Risiko für Asthma im Kindesalter.
  • Eine Auswertung von 20 Studien in einer sog. Metaanalyse ergab für Sectio-Babys ein um 23 Prozent höheres Risiko, später an Diabetes zu erkranken.
  • Nach einer aktuellen Studie von Professor Annette-Gabriele Ziegler vom Institut für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum München ist das Risiko für Kinder zuckerkranker Eltern mit 4,8 Prozent sogar doppelt so hoch, nach einem Kaiserschnitt bis zum 12. Jahr ebenfalls an Diabetes zu erkranken, als nach einer natürlichen Geburt (2,2 Prozent).
  • In Boston verfolgten Geburtshelfer und Kinderärzte die Entwicklung von 1 255 Kindern nach der Geburt. Sie stellten fest, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder unter den 284 Kaiserschnitt-Babys im Vorschulalter doppelt so hoch war wie in der Gruppe der Babys nach einer natürlichen Entbindung. Das gleiche Ergebnis erbrachte eine brasilianische Studie mit 2057 Kindern, deren Entwicklung bis zu 25 Jahren verfolgt wurde.

Die Stiftung Kindergesundheit stellt fest: Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass die natürliche Geburt einen wichtigen Teil der frühen Programmierung darstellt, dessen positive Effekte die Gesundheit noch viele Jahre später grundlegend beeinflussen können. Ein Kaiserschnitt sollte deshalb nur bei medizinischer Notwendigkeit für die Gesundheit der Mutter oder des Babys vorgenommen werden. Das ist nach einer Schätzung der WHO aber nur bei circa 15 Prozent der Geburten tatsächlich der Fall, also bei weniger als der Hälfte der derzeit in Deutschland beobachteten Zahl. 

Wann ist ein Kaiserschnitt wirklich notwendig?
Bei folgenden Situationen kann eine absolute Notwendigkeit für den operativen Eingriff bestehen:

  • Bei Quer- oder Schräglage des Babys;
  • bei einem Missverhältnis zwischen Kopf des Babys und dem Becken der Mutter, zum Beispiel bei einem geschätzten Gewicht des Kindes über 4000 Gramm;
  • wenn die Plazenta (Mutterkuchen) vor dem Muttermund zu liegen kommt;
  • bei vorzeitiger Plazentalösung;
  • bei bestimmten Erkrankungen der Mutter, wie z. B. eine Präeklampsie, HIV-Infektion oder Infektion mit Hepatitis B.

Eine relative Notwendigkeit kann in folgenden Fällen vorliegen:

  • Bei Zwillingen oder höhergradigen Mehrlingen;
  • bei einer so genannten Beckenendlage (Steißlage) bei einer erstgebärenden Mutter;
  • beim Alter der Mutter etwa ab 40 Jahren;
  • bei untergewichtigen Kindern oder Frühgeburten.

Quelle: Stiftung Kindergesundheit

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