Chronische Darmkrankheiten bei Kindern: immer häufiger, immer jünger
Rund 320 000 Menschen in Deutschland sind von Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa betroffen, darunter viele Jugendliche, ja sogar Säuglinge. In den letzten Jahren registriert man in Deutschland und anderen reichen Industrienationen einen steilen Anstieg von diesen miteinander verwandten entzündlichen Darmerkrankungen vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Liegt der Grund möglicherweise in den veränderten Lebensbedingungen der heutigen Kinder? Spielt vielleicht übertriebene Sauberkeit eine Rolle?
Diesen Fragen ging die in München beheimatete Stiftung Kindergesundheit in einer aktuellen Stellungnahme nach.
Unter dem Begriff „Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen“ (abgekürzt CED) werden zwei Krankheiten des Darms zusammengefasst, die zu ähnlichen Beschwerden führen und deren eigentliche Ursache nach wie vor unbekannt ist. Bei der Colitis ulcerosa ist nur der Dickdarm entzündet, beim Morbus Crohn ist der gesamte Magen-Darm-Trakt vom Mund bis zum After betroffen. Beide Erkrankungen kommen hauptsächlich in den Ländern mit westlichem Lebensstil vor. Die Gründe für die deutliche Zunahme besonders des M. Crohn im Kindesalter in jüngster Zeit sind bisher unbekannt.
Früher hat man als mögliche Ursache der CED-Krankheiten falsche Ernährung, Allergien oder psychische oder emotionale Gründe angeschuldigt. Wissenschaftliche Belege dafür sind jedoch nie erbracht worden, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. In manchen Familien kommen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen in mehreren Generationen vor. Auch Zwillingsstudien liefern Hinweise auf genetische Einflüsse in der Entstehung der Leiden.
Die Symptome von Morbus Crohn sind am Anfang oft so uncharakteristisch, dass die Krankheit längere Zeit nicht richtig erkannt wird. Das Kind hat keinen Appetit und klagt immer wieder über Bauchschmerzen. Die Appetitlosigkeit hat häufig eine Mangelernährung zur Folge, die wiederum Gewichtsverlust und einen Stillstand des Wachstums nach sich zieht.
Oft zu spät erkannt
Da die Symptome vieldeutig sind, wird die richtige Diagnose oft erst nach längerem Verlauf gestellt, erläutert die Münchner Kinder- und Jugendärztin Professor Dr. Sibylle Koletzko. Sie leitet die im deutschsprachigen Raum größte Ambulanz für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa an der Kinderklinik der LMU in München. Professor Sibylle Koletzko: „Die Diagnose eines M. Crohn kann deshalb schwierig sein, weil die wichtigsten Symptome, Bauchschmerzen und gelegentlich weiche Stühle, bei Kindern in aller Regel harmlos sind“. Wenn jedoch andere Symptome wie Appetitlosigkeit, Blässe, ein Leistungsknick und geringe Belastbarkeit, Veränderungen am Po mit kleinen Einrissen oder Fieber ohne Anzeichen einer Erkältung hinzukommen, sollte gezielt auf eine chronische Darmentzündung untersucht werden. Die chronische Krankheit ist häufig mit Gelenkentzündungen an Knöcheln, Knie und Hüften verbunden. Sie können die körperlichen Aktivitäten des Kindes stark beeinträchtigen.
Auch die Colitis ulcerosa ist eine unberechenbare Krankheit, die während des ganzen Lebens unvorhersehbar immer wieder aufflammen kann. Durchfälle mit Blut- und Schleim, die auch den Nachtschlaf unterbrechen, zum Teil mit Bauchschmerzen sind typische Symptome. Beide Erkrankungen sind für die betroffenen Kinder sehr belastend, so dass psychosoziale Probleme angesichts eines solchen Darmleidens nicht verwunderlich sind. Die seelischen Symptome sind jedoch die Folge und nicht die Ursache der Darmerkrankung.
CED und Allergien in der frühen Kindheit programmiert?
Verschiedene Studien deuten daraufhin, dass ähnliche frühkindliche Lebensbedingungen sowohl an der Entstehung von Allergien als auch von CED beteiligt sein könnten, berichtet die Stiftung Kindergesundheit weiter. So haben Wissenschaftler vom Hauner’schen Kinderspital der Universität München in mehreren großen Studien Kinder von Bauernhöfen untersucht und mit Nicht-Bauernhofkindern verglichen.
Es stellte sich heraus:
- Kinder auf dem Land leiden seltener unter Allergien und erkranken auch seltener an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa.
- Hat eine Mutter während der Schwangerschaft und während des ersten Lebensjahres seines Kindes Kontakt zu Stalltieren, verringert sich das Risiko des Kindes, später an Heuschnupfen und Asthma zu erkranken.
- Eine große Studie in Deutschland mit 1133 Kindern und Jugendlichen mit CED und 2483 Kindern in der Kontrollgruppe ergab, dass der Kontakt mit Stalltieren im ersten Lebensjahr das Risiko für die Entwicklung von Morbus Crohn um 50 Prozent und für Colitis ulcerosa um 60 Prozent verringerte.
- Kinder, die mindestens zwei ältere Geschwister haben, bekommen seltener Allergien und sind auch vor CED besser geschützt.
- Kinder, die niemals gestillt wurden, haben ein mehr als dreifach höheres Risiko, einen Morbus Crohn zu entwickeln, als gestillte Kinder.
Dies alles passt zu der so genannten Hygienehypothese, wonach der Lebensstil der westlichen Industrienationen mit zivilisatorischen Bedingungen wie fließend Warmwasser, Waschmaschinen und Kühlschränken, reichlichem Verbrauch von Seife, Putzund Waschmittel und Beseitigung von Schmutz aller Art, Einfluss auf die Ausbreitung von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen haben könnten.
Professor Sibylle Koletzko: „Der geringere frühkindliche Kontakt mit Mikroorganismen wie Bakterien und Parasiten unter den verbesserten hygienischen Umgebungsbedingungen könnte zu einem gestörten Gleichgewicht der Immunantwort im Laufe der Kindheit führen“. So leiden Menschen, die Helicobacter pylori–Bakterien im Magen haben, seltener an Asthma und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Die Ansteckung mit Helicobacter pylori erfolgt meist in der frühen Kindheit und bleibt ohne Behandlung dauerhaft bestehen.
Sogar Wurminfektionen könnten eine Rolle spielen. Eine Studie fand nämlich bei 20,2 Prozent der Bauernkinder Würmer und andere Parasiten, im Gegensatz zu nur 7,1 Prozent bei den Stadtkindern. „Die Besiedlung mit Würmern ist ein Beispiel für die evolutionäre wechselseitige Anpassung von Parasiten und Menschen und sie sich daraus ergebenden Konsequenzen nach Einführung moderner sanitärer Maßnahmen“, so Professor Sibylle Koletzko: „Noch vor 100 Jahren war nahezu jeder Mensch mit Würmern besiedelt und auch heute trifft das in den Entwicklungsländern auf mehr als eine Milliarde Menschen zu. Während die Würmer im Laufe der Entwicklung Strategien entwickelt haben, die Abwehrmechanismen des Körpers zu erkennen und ihnen auszuweichen, hat sich unser menschliches Immunsystem in tausenden von Jahren an diese Mitbewohner des Darms angepasst“.
Eine Hypothese ist noch kein Beweis
Diese Beispiele machen deutlich, dass die erfolgreiche Bekämpfung einer Bürde der Menschheit wie die Ausrottung oder Reduzierung chronischer und zum Teil lebensbedrohlicher Infektionen, das Immunsystem so beeinträchtigt, das das Risiko für andere Erkrankungen zunimmt. Dagegen besteht kein Zusammenhang zu Impfungen: Sie wirken sich nicht nachteilig auf das Immungleichgewicht aus, unterstreicht die Stiftung Kindergesundheit.
„Die Hygienehypothese liefert jedoch lediglich einen Hinweis und keinen Beweis auf die Entstehung der beiden CED-Krankheiten, betont Professor Sibylle Koletzko. „Die bisherigen epidemiologischen Studien eröffnen zwar den Blick auf mögliche Zusammenhänge und sollten weiterverfolgt werden. Sie helfen uns, Mechanismen zu erkennen, die in der Zukunft therapeutisch genutzt werden könnten, ohne dass Kinder den Gefahren dieser Infektionen ausgesetzt werden. Sie sollten also nicht zum generellen Abrücken von den bewährten alltäglichen Maßnahmen von Hygiene und Sauberkeit und den notwendigen Impfungen führen, denn noch immer drohen durch Infektionen große Risiken für die Kindergesundheit“.
Therapie braucht viel Geduld
Mag im Einzelfall der Krankheitsverlauf sehr langwierig sein und auch bedrohlich erscheinen, insgesamt haben sich die Chancen für Kinder mit CED in den letzten Jahren ganz erheblich verbessert, hebt die Stiftung Kindergesundheit hervor. Die Basis derBehandlung liegt in der Wiederherstellung und Erhaltung eines guten Ernährungszustandes und in der kontinuierlichen Bekämpfung der Entzündung mit Hilfe von individuell angepassten Medikamenten. Bei Kindern mit Morbus Crohn ist die Therapie der ersten Wahl eine Ernährungsbehandlung, bei der die kleinen Patienten über acht Wochen eine spezielle Flüssignahrung erhalten. Auf diese Weise kann im Kindes- und Jugendalter vielfach auf eine längerdauernde, hochdosierte Cortisonbehandlung verzichtet werden, die sonst das Wachstum ungünstig beeinträchtigen könnte. Die Prognose ist individuell unterschiedlich und hängt davon ab, wie ausgeprägt die Krankheit ist und ob sie rechtzeitig konsequent behandelt wird. Der größte Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen kann aber bei optimaler Betreuung eine gute Lebensqualität und normale Entwicklung erwarten.
„Crohn & Colitis-Tag“
Rat und Unterstützung finden CED-Patienten bei der großen Selbsthilfeorganisation „Deutsche Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (DCCV) e. V.“ unterstützt. Neben der Beratung von Betroffenen und ihren Angehörigen vermittelt die DCCV Kontakte zu Selbsthilfegruppen, Ärzten, Pflegepersonal, Krankenhäusern und Kurkliniken. Die Kind- /Elterninitiative der DCCV vermittelt auch Kontakte zwischen Eltern, die Rat suchen oder Rat geben können.
Anschrift der DCCV:
Reinhardstraße 18, 10117 Berlin.
Telefon: 030/2000392 0, Telefax: 030/2000392 87,
Email: info@dccv.de, Internet: www.dccv.de.Die Selbsthilfeorganisation veranstaltet gemeinsam mit dem „Kompetenznetz Darmerkrankungen“ im Zeitraum vom 14. September bis 14. Oktober 2012 bundesweit den „Crohn & Colitis-Tag“. Unter dem Motto „Hochaktiv“ gibt es verschiedene Veranstaltungen, die allen Interessierten offen stehen. Das „Kompetenznetz Darmerkrankungen“ ist ein Forschungsverbund von Fachleuten, die auf die Erforschung der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen spezialisiert sind.
Anschrift:
Arnold-Heller-Straße 3, Haus 27, 24105 Kiel.
Telefon: 0431/597 3937, Fax: 0431/597 3988
Email: sekretariat@kompetenznetz-ced.de,
Internet: www.kompetenznetz-ced.de
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