Das gibt es nicht, sagen Sie? Doch, dieses Lebensmittel existiert wirklich, sehr zur Freude seiner begeisterten Konsumenten, behauptet die Stiftung Kindergesundheit. Das einmalige Lebensmittel heißt Muttermilch und die Konsumenten, denen es angeboten wird, sind alle Babys dieser Welt.
Soweit der Idealfall. Die Wirklichkeit sieht anders aus: „Trotz der einzigartigen Vorzüge der natürlichsten Ernährungsform für Säuglinge wird die überwiegende Mehrheit der Babys in aller Welt nicht lange genug gestillt und bekommt schon bald zusätzlich zum Stillen oder als alleinige Ernährung industriell hergestellte oder hausgemachte Säuglingsnahrungen. In Deutschland zum Beispiel werden nach der Geburt zwar noch 90 Prozent aller Babys gestillt, im zweiten Monat bekommen jedoch nur noch 60 Prozent von ihnen die Brust“, bedauert Professor Dr. Berthold Koletzko, Kinder- und Jugendarzt an der Universitätskinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit.
Babys wachsen in einem rasanten Tempo: Sie wiegen schon mit vier bis fünf Monaten doppelt so viel wie bei der Geburt und benötigen für ihre Entwicklung viele Nährstoffe in ausgewogener Zusammensetzung. „Es liegt deshalb auf der Hand, dass auch für die künstliche Babymilch höchste Qualität und Sicherheit unerlässliche Voraussetzungen sind“ betont Professor Koletzko. „Eine unausgewogene Ernährung oder eine fehlerhafte Zusammensetzung der Babynahrung können für die aktuelle Gesundheit der Kinder und sogar für ihr späteres Leben von entscheidender Bedeutung sein“.
Pannen in der Produktion
Die modernen Säuglingsnahrungen bieten ein erfreulich hohes Maß an Qualität und Sicherheit. Es gelten für sie wesentlich strengere Regelungen als für alle anderen Lebensmittel. Dass dies jedoch kein Grund für Selbstzufriedenheit ist, beweisen die immer wieder aufgetretenen Zwischenfälle und Rückrufaktionen mit Industrieprodukten. Bei einem von der Stiftung Kindergesundheit initiierten Workshop in Sorrent (Italien) berieten deshalb Ernährungsexperten aus Europa und den USA über die in den letzten Jahren bekannt gewordenen Sicherheitspannen und Kontrollversagern bei der Herstellung von künstlichen Säuglingsnahrungen mit dem Ziel, solchen Ereignissen künftig besser vorzubeugen.
(Die Ergebnisse des Workshops wurden publiziert in Ann Nutr Metab 2012;60:179–184)
Anlass für die Einführung strenger Standards in den 1980er Jahren stand eine schwerwiegende Panne. Ein großer amerikanischer Hersteller hatte 1978 zwei Säuglingsnahrungen auf Sojabasis eingeführt und dabei den Salzgehalt besonders niedrig angesetzt. Die damit ernährten Babys entwickelten Stoffwechselprobleme, wiesen ein beeinträchtigtes Wachstum auf und hatten in ihrem späteren Leben mit langfristigen Entwicklungsstörungen und ernsten Verhaltensproblemen zu kämpfen. Davon aufgerüttelt beschloss der US-Kongress strengere Regeln für die Zusammensetzung, Einführung und Vermarktung von Babynahrung.
Dieser „US-Infant Formula Act of 1980“ war der erste Schritt zur Einführung weiterer nationaler und internationaler Normen und Gesetzesvorschriften für Säuglingsnahrungen und Babykost, die zur heutigen hohen Sicherheit dieser Produkte geführt haben. Angesichts der riesigen Zahl der tagtäglich mit solchen Produkten ernährten Kinder sind nur sehr wenig Zwischenfälle und unerwünschte Ereignisse bekannt geworden.
Verhängnisvolle Fehler
Allerdings können trotz der mittlerweile etablierten Normen und Vorschriften immer noch Zwischenfälle auftreten, berichtet die Stiftung Kindergesundheit. Ein sehr ernster Fall liegt erst neun Jahre zurück: 2003 entwickelte ein deutscher Hersteller eine koschere Babymilch auf Sojabasis, die in Israel wurde. Während des Entwicklungsprozesses unterliefen dem Unternehmen Fehler.
Analysedaten wurden anscheinend übersehen oder fehlinterpretiert. Die Babymilch wurde mit einem zu geringen Gehalt des lebenswichtigen Vitamin B1 produziert.
Der Thiamin-Mangel in der Nahrung blieb auch bei den späteren Kontrollen unentdeckt und die Nahrung wurde unter Zeitdruck nach Israel ausgeliefert.
Die Folgen waren katastrophal. Professor Koletzko: „Zwischen zwei bis sechs Prozent der Babys in Israel wurden in den darauf folgenden Monaten mit der fehlerhaften Babynahrung ernährt. Das hat drei Babys das Leben gekostet. Sie starben an den Folgen eines akuten Vitamin B1-Mangels. Mindestens zehn Kinder wurden neurologisch schwer geschädigt. Sie litten unter Krämpfen, entwickelten eine Epilepsie und waren in ihrer mentalen Entwicklung beeinträchtigt. Ein weiteres Kind starb noch mehr als sechs Jahre nach dem Konsum des fehlerhaften Produkts“.
Fälscher am Werk
Die bisher wahrscheinlich größte Sicherheitspanne bei Säuglingsnahrung trat 2008 in China auf. Dort haben betrügerische Firmen Kuhmilch mit Melamin gestreckt, um einen höheren Eiweißgehalt vorzutäuschen, auf dessen Grundlage die Bezahlung der abgelieferten Kuhmilch erfolgte. Das aus Harnstoff industriell gewonnene Melamin wird normalerweise zu Kunstharz verarbeitet und als Schaumstoff und Flammschutzmittel verwendet. Die vor allem für die Niere schädliche Substanz wurde mit der Säuglingsnahrung an schätzungsweise mehr als 300.000 Kinder wurden mit dem für die Niere giftigen, verseuchten Produkt gefüttert. Sechs von ihnen starben und zehntausende mussten mit Nierensteinen ins Krankenhaus. Durch den globalen Vertrieb derartiger Produkte sind melaminhaltige Erzeugnisse aus China auch in weitere Länder Asiens, aber auch nach Afrika, Australien, Neuseeland, Europa und Nordamerika gelangt.
Erst im letzten Jahr ist ein weiterer Fall von Produktfälschung bekannt geworden. In Taiwan kamen Milchpulver und Saftgetränke in den Handel, denen als Trübungsstoffe die Phthalate DEHP oder Diisononylphthalat (DINP) zugesetzt wurden. Phthalate sind Weichmachersubstanzen, die im Verdacht stehen, krebserregend und hormonell wirksam zu sein. Sie können auch das Wachstum und die mentale und motorische Entwicklung der Kinder beeinflussen und erhöhen das Risiko für die Entstehung von Herzfehlern.
Trotz der strengen Vorschriften für die Herstellung von künstlicher Säuglingsnahrung kann ein minimales Restrisiko nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden, hieß es auf dem von der Stiftung Kindergesundheit initiierten Expertentreffen. Solche Risiken drohen zum Beispiel von krankheitserregenden Bakterien, die bei langer Lagerung oder bei der Zubereitung der pulverförmigen Nahrung ins Fläschchen gelangen können. Möglich sind auch Verunreinigungen durch Umweltchemikalien und Rückstände, die aus der Verpackung in die Nahrung gelangen können.
Die Experten waren sich einig:
Um die Gefahr für die Millionen von Babys so gering wie möglich zu halten, die mit industriell hergestellter Nahrung aufgezogen werden, sind auch weiterhin strenge Standards und regelmäßige Kontrollen nötig.
Die Hersteller tragen eine große Verantwortung für die Qualität und Zusammensetzung der verwendeten Rohstoffe, für die Überwachung der Produktion und für die Einhaltung höchster Reinheitsstandards. Vor der Einführung neuer Produkte oder einer Veränderung der Inhaltsstoffe sollten sie alle Zutaten gründlich und nach aktuellen wissenschaftlichen Standards in klinischen Studien überprüfen.
Neue oder veränderte Säuglingsnahrungen sollten vor der Markteinführung von einer unabhängigen Behörde auf ihre Eignung und Sicherheit überprüft werden. In vielen Ländern wie z.B. in den USA und in Australien ist dies der Fall. In Deutschland und in Europa jedoch ist lediglich eine Anmeldung der Markteinführung erforderlich, nicht jedoch die von Kinderärzten und Wissenschaftlern geforderte routinemäßige unabhängige Überprüfung.
Professor Koletzko: „Um unseren Kindern den besten Schutz zu bieten, müssen Lebensmittelhersteller, Überwachungsbehörden und Wissenschaftler weltweit eng zusammenarbeiten. Nur so können gefährliche Zwischenfälle mit Säuglingsnahrungen besser als bisher verhütet werden“.
Stiftung Kindergesundheit – www.kindergesundheit.de
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