Für den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Barmer GEK, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, ist dies kein Grund für Alarmstimmung: „Wir sehen, dass professionelle Sprachförderung in Anspruch genommen wird.“ Tatsächlich werden Vorschüler mit diagnostizierter Sprachentwicklungsstörung zu einem guten Drittel auch logopädisch behandelt. Hinter den hohen Diagnoseraten dürften laut Dr. Thomas Grobe vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung aus Hannover (ISEG) vermutlich auch Abgrenzungsprobleme stecken: „Hier fehlen in der ärztlichen Praxis offenbar zum Teil noch geeignete, praktikable und einheitlich angewendete Kriterien der Diagnoseerstellung.“
Barmer GEK-Vize Schlenker hebt das hohe ambulante Versorgungsniveau in Deutschland hervor: „Die kinderärztliche Betreuung ist flächendeckend und sucht ihresgleichen.“ Bis einschließlich dem sechsten Lebensjahr haben jährlich mindestens 89 Prozent der Kinder ambulanten Kontakt zu einem Kinderarzt. Insgesamt liegt die Inanspruchnahme von Ärzten (Haus-, Kinder- und Fachärzte) in den ersten sechs Lebensjahren sogar bei 98 Prozent.
U-Untersuchungen kommen an
Der Anteil an Kindern ohne Kontakt zum Kinderarzt liegt in Bremen bei nur drei Prozent, in Berlin und Hamburg bei fünf Prozent. Flächenbundesländer wie Bayern oder Niedersachsen kommen dagegen auf zehn bzw. elf Prozent – und Mecklenburg-Vorpommern sogar auf rund 16 Prozent. Versorgungslücken kann Schlenker dennoch nicht entdecken: „Auf dem Land übernehmen andere ärztliche Fachdisziplinen die Behandlung der Kleinsten.“
Hoch ist auch die Teilnahmerate bei den Kindervorsorgeuntersuchungen U5 bis U7 mit rund 95 Prozent, bei der U8 und U9 sind es etwa 90 Prozent. Eine Ausnahme bildet die 2008 eingeführte U7a. Hier zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern: Während im Saarland bereits rund 97 Prozent aller Kinder teilnehmen, sind es in Hamburg und Berlin erst rund 75 Prozent. Der Autor des Arztreports, Dr. Thomas Grobe vom ISEG, sieht Nachholbedarf: „Gerade in den Stadtstaaten haben wir einerseits eine starke Gesundheitsinfrastruktur, andererseits ausgeprägte Bedarfslagen. Bei den unterschiedlichen Teilnahmeraten dürfte aber auch die Einladepraxis eine maßgebliche Rolle spielen.“
Krankheitsspektrum erweitert sich
Die klassischen Kinderkrankheiten wie Windpocken, Scharlach oder Röteln sind offenbar im Griff, das Krankheitsspektrum wird aber erweitert durch Sprachentwicklungsstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Gleichzeitig fällt auf, dass Jungen von diesen Diagnosen überdurchschnittlich betroffen sind: So geht mittlerweile jeder zehnte neunjährige Junge zum Neurologen oder Psychiater (9,6 Prozent). 60 Prozent davon mit der Diagnose ADHS. Zum Vergleich: Bei den neunjährigen Mädchen sind es sechs Prozent, davon rund 40 Prozent mit ADHS-Diagnose.
Und noch etwas bringen die Forscher vom ISEG ans Licht: Über elf Prozent aller Kinder zwischen 0 und 14 Jahren haben Neurodermitis. Bei den 0- bis 3-Jährigen sind es sogar rund 16 Prozent. Auffällig ist die regionale Verteilung: Alle ostdeutschen Bundesländer erreichen deutlich höhere Diagnoseraten. Spitzenreiter ist Thüringen (17,1 Prozent), gefolgt von Sachsen-Anhalt (16,4 Prozent) und Sachsen (15, 6 Prozent).
Anstieg der Behandlungsfälle gebremst?
Erstmals seit sechs Jahren ging 2010 die Zahl der ambulanten Behandlungsfälle pro Versichertem altersbereinigt leicht zurück: von 8,04 auf 7,93. Allerdings bewegt sich die Behandlungsquote, also der Anteil der Menschen, die mindestens einmal pro Jahr einen Arzt aufsuchen, zwischen 2004 und 2010 relativ konstant zwischen 91 und 93 Prozent (2010 = 91 Prozent). Für Schlenker ein deutliches Signal: „Wir haben nach wie vor eine exzellente ambulante Versorgung, die das Vertrauen der Bevölkerung genießt.“ Zwar existierten regionale Versorgungsunterschiede zwischen Stadt und Land. Größtenteils finde aber eine Mitversorgung der ländlichen Gebiete durch Oberzentren und die interdisziplinäre Zusammenarbeit der ärztlichen Fachgruppen statt. „Diese Tatsachen müssen bei der Neujustierung der Bedarfsplanung berücksichtigt werden.“
Bilder: Quelle: BARMER GEK Arztreport 2012
Barmer GEK 2011
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