Kein Kind vergessen – Mehr Frühförderung von Kindern aus anregungsarmen Familien

„Wir Kinder- und Jugendärzte sehen einen großen Anteil von Kindern, die im besonders wichtigen Vorschulalter unzureichend in ihrem Lebensumfeld gefördert werden“, beschreibt Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland, die Ergebnisse vieler Vorsorgeuntersuchungen. „Meist handelt es sich um Kinder aus sozial prekären, anregungsarmen Familien, aber auch aus Familien mit Migrationshintergrund.

Der fehlende innerfamiliäre Austausch wird oft durch den Fernseher ersetzt, es wird wenig gesprochen oder gar miteinander gespielt. Wir finden schon bei 5-jährigen die Spielkonsole im Kinderzimmer.“ Hartmann bemängelt, dass die wesentlichen außerfamiliären Fördereinrichtungen wie Kindergarten und Kindertagesstätte hier und heute offenbar nicht in der Lage sind, die Förderdefizite sozialkompensatorisch umfassend auszugleichen. Kinder mit Sprachdefiziten oder Defiziten im Sozialverhalten hätten es schwerer, den Schulabschluss zu schaffen, ein niederrangiger oder gar kein Schulabschluss verschlechtere die Chance auf eine Berufsausbildung und eine gute Sozialprognose. „Auf dem Hintergrund unserer demographischen Situation können wir es uns aber überhaupt nicht mehr leisten, auch nur ein einziges Kind zu vergessen und nicht seinen Fähigkeiten entsprechend bestmöglich zu fördern“, so der Mediziner.

„Auch wir Kinder- und Jugendärzte können solche soziogenen Defizite nicht ausreichend heilen“, sagt Hartmann. „Zwar wird in diesen Fällen immer wieder eine medizinische Fördertherapie verschrieben, dies aber mehr auf dem Hintergrund fehlender regionaler pädagogischer Frühförderinstitutionen als in der Hoffnung auf überzeugende Therapieerfolge.“ Hartmann nimmt hiermit Bezug auf einen Artikel in der jüngsten Ausgabe des Spiegel, in der u.a. die zu schnelle Verordnung von Heilmitteln wie Logopädie und Ergotherapie durch Kinder- und Jugendärzte kritisiert wird. „Hätten wir ein quantitativ wie qualitativ ausreichendes pädagogisches System der sozialkompensatorischen frühkindlichen Förderung, wären solche Kinder dort sicher besser aufgehoben als im Medizinsystem. Wer Ausgabenanstieg bei Heilmittelverordnungen für Kinder anprangert, muss sich fragen lassen, warum die Gesellschaft nicht ausreichend Frühfördereinrichtungen zur Verfügung stellt und die Betreuungseinrichtungen für Kinder nicht so ausstattet, dass sie ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag nachkommen können.“

Hartmann verweist hier auf das Dilemma,  in dem sich Kinder- und Jugendärzte befinden: familiär bedingte Förderdefizite – also Defizite im pädagogischen Bereich –  äußern sich dem Arzt – also dem Medizinsystem – als Teilleistungs- oder Verhaltensauffälligkeit. Das Medizinsystem antwortet mit den ihm immanenten Tools („Heilmittel“ = Medizin),  der eigentliche Adressat wäre aber das Pädagogiksystem, also der Kindergarten, die KiTa. Schlimmer noch: in den Einrichtungen des Pädagogiksystem werde zunehmend „pathologisiert“, d.h., Kinder mit z.B. Verhaltensauffälligkeiten würden nicht mit den Mitteln der Erziehungswissenschaft „behandelt“, sondern es erfolge der Rat, zum Arzt zu gehen, das Kind sei auffällig, mithin krank. „So kann es in Zukunft  nicht weitergehen“, resümiert Hartmann, „wir müssen diesen Fördertransfer stoppen. Kinder mit frühkindlichen Förderdefiziten müssen in pädagogischen Einrichtungen gefördert werden. Hierfür muss der Staat ausreichend quantitativ und qualitativ  sorgen. Das, was wir jetzt sehen, ist zu wenig.“

 

BERUFSVERBAND DER KINDER- UND JUGENDÄRZTE e. V.         
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