1.BfR, BVL und RKI kommen gemeinsam zu dem Schluss, dass die bestehende allgemeine Empfehlung, in Norddeutschland auf den Verzehr von Gurken, Tomaten und Blattsalat zu verzichten, nicht mehr aufrecht erhalten werden muss.
2.BfR, BVL und RKI empfehlen, über die üblichen Hygienemaßnahmen hinaus, vorsorglich bis auf weiteres Sprossen nicht roh zu verzehren. Haushalten und Gastronomiebetrieben wird empfohlen noch vorrätige Sprossen sowie möglicherweise damit in Berührung gekommene Lebensmittel zu vernichten.
3.BfR, BVL und RKI empfehlen weiterhin, dass alle Lebensmittel, die aus einem Betrieb in Niedersachsen stammen, aus dem Verkehr gezogen werden.
4.BfR, BVL und RKI empfehlen, die üblichen Hygieneempfehlungen im Umgang mit Lebensmittel und Patienten streng zu befolgen.
Erkenntnisstand zu den humanen Erkrankungen
Aktuelle Situation
Frühere epidemiologische Studien
Seit dem 20.5.2011 untersucht das RKI in Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Lebensmittelbehörden des Bundes und der Länder den Ausbruch an hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) in Norddeutschland. Die Ursache des Ausbruchs konnte durch die epidemiologischen Studien, die aufeinander aufbauten, zunehmend eingegrenzt werden.
Die ersten beiden Fall-Kontroll-Studien beschränkten sich aus methodischen Gründen auf jene Expositionen, die in der Lage waren einen Großteil der Fälle zu erklären. Dabei ergaben epidemiologische Analysen, dass betroffene Patienten signifikant häufiger rohe Tomaten, Salatgurken und Blattsalate verzehrt hatten als gesunde Studienteilnehmer. Ergänzt wurden diese Ergebnisse durch eine Fall-Kontroll-Studie bei Kantinenkunden, die zu dem Ergebnis führte, dass der Verzehr von Lebensmitteln von der Salatbar deutlich mit der Erkrankung assoziiert war. Da weder durch diese Studien noch durch Hinweise aus dem Bereich der Lebensmittelsicherheit eine Eingrenzung der in Frage kommenden Gemüsesorten möglich war, hat das RKI weitere Studien eingeleitet.
Rezeptbasierte Restaurant Kohortenstudie
Mit der „Rezeptbasierten-Restaurant-Kohortenstudie“ ist es heute erstmals möglich, epidemiologisch die Ursache des Ausbruchs mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Verzehr von Sprossen einzugrenzen. Die „Rezeptbasierten-Restaurant-Kohortenstudie“ konnte erst jetzt durchgeführt werden, weil erst eine ausreichende Zahl von Restaurantkunden bekannt und verfügbar sein mussten, um eine ausreichende statistische Belastbarkeit der Analyse zu gewährleisten.
Um bei der Erfassung des Rohkostverzehrs weniger abhängig vom Erinnerungsvermögen der befragten Patienten und Kontrollpersonen zu sein, hat das RKI mit Hilfe dieser „Rezeptbasierten-Restaurant-Kohortenstudie“ folgenden Ansatz verfolgt. Fünf Gruppen (Reisegruppen, Vereine etc) mit insgesamt 112 Teilnehmern, von denen insgesamt 19 Mitglieder nach einem gemeinschaftlichen Restaurantbesuch erkrankt sind, wurden auf ihren Verzehr im Restaurant hin untersucht. Dabei wurden die Restaurantbesucher nicht nur befragt, sondern aufgrund der Bestelllisten und Abrechungsdaten wurde ermittelt, welche Menüs die Mitglieder der Reisegruppen bestellt hatten. Zugleich wurde die Küche des betroffenen Restaurants detailliert befragt, wie genau welches Menü zubereitet wurde und welche Mengen welcher Zutat in welchem Menü enthalten waren. Ergänzend wurden Fotos der Reisegruppen ausgewertet, um zu belegen, welche Lebensmittel und Garnierung sich auf den Tellern befanden. Diese Informationen wurden in einem Kohortenansatz ausgewertet, der es erlaubt, retrospektiv das relative Erkrankungsrisiko für Restaurantkunden zu berechnen. Hierbei ergaben die aktuellen Analysen, dass Kunden, die Sprossen verzehrt hatten, ein 8,6-fach höheres Risiko hatten (95% KI 1.5 – ∞), an blutigem Durchfall oder durch Labornachweis bestätigten EHEC/HUS zu erkranken als Kunden, die dieses Lebensmittel nicht verzehrt hatten. Zudem konnte auf diese Weise auch dargelegt werden, dass von den insgesamt in diese Studie erfassten Fällen 100% Sprossen verzehrt hatten.
Erkenntnisse aus Fall-Kontroll-Studien zum Verzehr von Sprossen
Bereits bei der ersten intensiven Befragung von Hamburger Patienten (20.5./21.5) war eine Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Lebensmittel einschließlich Sprossen berücksichtigt worden. Bei dieser explorativen Befragung gaben nur 3 von 12 Patienten an, Sprossen verzehrt zu haben. Die befragten Patienten fielen durch eine besonders bewusste und aufmerksame Ernährungsgewohnheit auf, so dass eine relevante Untererfassung von Sprossen unwahrscheinlich schien. Es ist eine methodische Forderung und Standardvorgehensweise, möglichst nur solche Expositionen einzuschließen, die potenziell in der Lage sind, epidemiologisch einen großen Teil des Ausbruchsgeschehens zu erklären. Andernfalls erhöht sich bei Einschluss einer zu großen Anzahl von Expositionen die Gefahr fälschlich positiver Zusammenhänge. Daher wurden die Sprossen zunächst nicht weiterverfolgt. Sprossen wurden in späteren ausführlichen Befragungen des RKI berücksichtigt. Insgesamt gaben 16 (30%) der 54 Patienten, die in den ausführlichen Befragungen zu Sprossenverzehr eine Auskunft geben konnten, an, Sprossen im angenommenen Infektionszeitraum verzehrt zu haben.
In einer weiteren, am 29.5.2011 begonnenen, vertiefenden „Rohkost-Fallkontrollstudie“, die zum Ziel hatte, genauer zwischen den pflanzlichen Lebensmittel differenzieren zu können, wurden 26 an HUS erkrankten Personen aus Lübeck, Bremerhaven und Bremen je 3 nichterkrankte Personen individuell aufgrund ihres Alters, Geschlechts und Wohnortes zugeordnet. Hierbei gaben 6 (25%) von 24 erkrankten Personen an, Sprossen im angenommenen Infektionszeitraum verzehrt zu haben, verglichen mit 7 (9%) von 80 Nichterkrankten, bei denen diese Angaben vorlag. Dieser Zusammenhang ist zwar in der univariablen Analyse statistisch signifikant (OR=4.35 und 95% KI 1.05-18), jedoch nicht in der multivariablen Analyse, so dass die Aussagekraft dieses Ergebnisses eingeschränkt ist. Wie auch in den vorhergehenden Fall-Kontroll-Studien wurde in dieser Rohkost-Studie der Verzehr weiterer pflanzlicher Lebensmittel, z.B. Tomate, Gurke, oder Blattsalat, häufiger von erkrankten Personen berichtet als von nicht-erkrankten Vergleichspersonen, jedoch war der Zusammenhang in dieser Studie statistisch nicht signifikant. Diese Ergebnisse stehen jedoch insofern in Einklang mit den beiden bereits veröffentlichten Fall-Kontroll-Studien des RKI, als dass die genannten Gemüsesorten häufig gemeinsam verzehrt werden.
Erkenntnisstand zur Lebensmittelkette
Nach jetzigem Kenntnisstand weisen auch die Lieferbeziehungen darauf hin, dass die Verbreitung der EHEC-Infektionen von einem niedersächsischen Gartenbaubetrieb ausgeht und sich mit der geographischen Verteilung vieler Fall-Häufungen deckt.
Zur Unterstützung der Aufklärung des länderübergreifenden Ausbruchgeschehens haben sich Bund und Länder entschieden, eine Task Force am BVL anzusiedeln, in der Experten mehrerer Bundesländer, des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, des Bundesinstituts für Risikobewertung und des Robert Koch-Instituts beteiligt sind und die von Fachexperten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA sowie der Europäischen Kommission unterstützt wird.
Der Auftrag dieser Task Force besteht darin, die epidemiologischen Erkenntnisse über einzelne Ausbruchscluster mit den bei den Lebensmittelaufsichtsbehörden vorhandenen Informationen zu den dazugehörenden Lieferketten länderübergreifend zu analysieren. Cluster sind z.B. Hotels, Restaurants und Kantinen, in denen Menschen gegessen haben und in der Folge erkrankt sind.
Die Vertriebswege von Sprossen aus dem niedersächsischen Gartenbaubetrieb können bislang 26 von 55 Erkrankungshäufungen bzw. Einzelerkrankungen von EHEC O104:H4 in fünf betroffenen Bundesländern erklären. Hierzu hat das Land Niedersachsen umfangreiche Daten aus seiner Lebensmittelüberwachung geliefert. Es kann nach derzeitigem Kenntnisstand nicht ausgeschlossen werden, dass der Eintrag des Ausbruchserregers in den Gartenbaubetrieb durch Personen erfolgt ist. Auch ein Eintrag über Wasser, Vorlieferanten oder Saatgut ist denkbar. Dieses wird derzeit durch eine Überprüfung der Lieferbeziehungen und durch Labortests untersucht.
Andere Eintragsquellen im Betriebsbereich können derzeit noch nicht ausgeschlossen werden. Die Behörden in Niedersachsen und das BfR haben im betroffenen Betrieb in den letzten Tagen umfangreich Proben gezogen, deren vollständige Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Auch wenn bisher noch kein Nachweis des Ausbruchserregers bestätigt werden konnte, ist die Indizienkette inzwischen so belastend, dass die Bundesinstitutionen und Länder davon ausgehen müssen, dass der EHEC-Ausbruch hier seinen Ausgang genommen hat.
Bund und Länder werden weitere Untersuchungen und Analysen von Vertriebswegen vornehmen, um zu überprüfen ob kontaminiertes Saatgut für die Herstellung von Sprossen in anderen Erzeugerbetrieben verwendet wird oder auf den Markt kommt.
Da eine mögliche Quelle des Eintrags auch das verwendete Sprossen-Saatgut sein kann, kommen auch andere sprossenproduzierende Betriebe als mögliche Verteiler von EHEC O104:H4 in Frage.
Das Überleben und die Vermehrung von EHEC auf Sprossen begünstigt eine weite Verbreitung des Erregers über die Lieferketten aus den Produktionsbetrieben an den Verbraucher.
Daher raten RKI, BVL und BfR bis zur Abklärung dieser möglichen Kontaminationsquelle vom Verzehr von rohen Sprossen ab.
Die aktuelle Mitteilung ersetzt den bisherigen Verzehrshinweis von RKI und BfR vor Gurken, Tomaten und Blattsalat, da es nach jetzigem Kenntnisstand sehr wahrscheinlich ist, dass Produkte aus dem Gartenbaubetrieb Ausgangspunkt der EHEC-Infektionen sind.
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