Schwangerschaft & Baby

Großfahndung in der Geburtsklinik – Wie Kinderärzte heute angeborene Krankheiten entdecken und behandeln

„Vorbeugen ist besser als heilen“ – diese Binsenweisheit hat in keinem anderen Bereich der Medizin soviel Berechtigung wie in der Kinder- und Jugendmedizin. Während der Sinn von Vorsorge-Maßnahmen bei Erwachsenen immer wieder diskutiert und oft sogar ihr Nutzeffekt in Frage gestellt wird, tritt der Erfolg der Prävention bei Kindern von Jahr zu Jahr deutlicher zu Tage, stellt die Stiftung Kindergesundheit mit großem Nachdruck fest.

Eine besondere Rolle spielt im Rahmen der Kindervorsorge die Fahndung nach angeborenen Störungen. Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der in München beheimateten Stiftung Kindergesundheit: „Solche Krankheiten äußern sich nur zu einem kleinen Teil in sichtbaren körperlichen Veränderungen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind die Babys anfangs unauffällig und entwickeln nur nach und nach Symptome ihrer Krankheit. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es dann jedoch vielfach schon zu spät, weil die Krankheit im kindlichen Organismus irreparable Schäden angerichtet haben kann“.

Detektive im weißen Kittel

In den letzten Jahren gelingt es den Kinder- und Jugendärzten immer häufiger, den Wettlauf mit der Krankheit zu gewinnen. Sie suchen schon in den ersten Lebenstagen des Kindes mit geradezu detektivischer Akribie nach angeborenen Stoffwechsel- und Hormonmangelkrankheiten, um rechtzeitig eingreifen zu können. Die dabei eingesetzte Fahndungsmaßnahme – im Medizinerenglisch „Screening“ genannt – bietet nach Ansicht der Stiftung Kindergesundheit eine faszinierende Möglichkeit:  Angeborene und später oft unheilbare Krankheiten werden so früh entdeckt und behandelt, dass sie sich gar nicht erst entwickeln können.


„Mit dem seit 2005 in ganz Deutschland etablierten Screening werden nahezu alle Neugeborenen erreicht“, berichtet Professor Koletzko. „Es gelingt uns so, jährlich etwa 500 Neugeborene in Deutschland mit einer angeborenen Hormon- oder Stoffwechselkrankheit bereits am Anfang des Lebens zu diagnostizieren und schon sehr früh – bei jedem zweiten sogar innerhalb der ersten Lebenswoche – eine Therapie einzuleiten. Schwere Behinderungen und sogar Todesfälle können so verhindert werden“.

Das Problem mit der Schilddrüse

Die Arbeit der „Detektive im weißen Kittel“ lässt sich am Beispiel einer Unterfunktion der Schilddrüse beim Neugeborenen besonders anschaulich darstellen. Die Schilddrüse spielt im Hormonhaushalt des Körpers eine wichtige Rolle. Die jodhaltigen Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) steuern verschiedene Stoffwechselvorgänge in den Körperzellen und beeinflussen so das körperliche Wachstum und auch die geistige Entwicklung eines Kindes. Nach Angaben der Stiftung Kindergesundheit kommt heute eines von 3.900 Babys mit einer Unterfunktion der Schilddrüse zur Welt – die Ärzte sprechen von einer „Hypothyreose“.

Bleibt der angeborene Hormonmangel unerkannt, kommt es zu einer verhängnisvollen Entwicklung: Das Baby wird teilnahmslos und ermüdet leicht, es kommt zu Appetitlosigkeit und Verstopfung, die Haut wird trocken und gelb, die Haare struppig. Weitere Zeichen können eine große Zunge, eine heisere Stimme und ein aufgetriebener Bauch mit einem Nabelbruch sein. Besonders empfindlich reagiert das Gehirn, dessen Reifungsvorgänge ohne Schilddrüsenhormon nur unvollständig ablaufen können: Der Mangel führt zum Wachstumsstillstand und zu schweren bleibenden geistigen Behinderungen, die als „Kretinismus“ bezeichnet werden.

Dies alles kann dem Kind erspart werden, wenn die Störung frühzeitig erkannt und bereits innerhalb der ersten vier Lebenswochen behandelt wird. Die Ersatztherapie (Substitution) besteht aus der Gabe des Schilddrüsenhormons L-Thyroxin. Professor Koletzko: „Diese Behandlung muss zur Verhütung einer Hirnschädigung meist lebenslang weitergeführt werden. Bei rechtzeitigem Beginn der Substitution weisen die Kinder später kaum Unterschiede im Intelligenzniveau gegenüber gesunden Altersgenossen oder den eigenen Geschwistern auf. Sie entwickeln sich derart normal, dass ihre Eltern oft an der Diagnose zweifeln. Der behandelnde Kinder- und Jugendarzt muss sie deshalb immer wieder zur Weiterführung der regelmäßigen Tablettengabe motivieren“.

Nur ein paar Tropfen Blut

Die Spurensuche beginnt schon in der Geburtsklinik, im gemeinsamen Zimmer von Mutter und Baby oder auf der Säuglingsstation: Meistens im Rahmen der „Neugeborenen-Basisuntersuchung“, der so genannten U2, entnimmt der Arzt ein paar Tropfen Blut aus der Ferse des Babys und tränkt damit eine Filterpapierkarte. Dieses Testblatt wird dann getrocknet und umgehend zur Untersuchung in eines der 15 deutschen Laboratorien versandt, die derzeit die Proben des Neugeborenen-Screenings bearbeiten. Besteht bei der sofortigen Auswertung Verdacht auf eine Schilddrüsenunterfunktion, kann das Baby schnellstens eingehend untersucht, gegebenenfalls mit Schilddrüsenhormon behandelt werden und sich dank dieser Therapie körperlich und geistig ganz normal entwickeln.

Das Testblatt mit Babys Blut wird gleichzeitig zur Fahndung nach weiteren 13 angeborenen Störungen benutzt, so zur Erkennung einer Phenylketonurie (PKU). Diese Krankheit betrifft in Deutschland etwa eines von 5.500 Neugeborenen. Wenn das Kind nicht behandelt wird, gelangen durch einen Enzymdefekt im Eiweißstoffwechsel giftige Stoffe ins Blut. Sie führen zunächst zu einem Entwicklungsrückstand, häufig auch zu Krampfanfällen und führen dann zu einer fortschreitenden geistigen Behinderung („Phenylbrenztraubensäure-Schwachsinn“).

Ergibt die heute eingesetzte Messmethode der Tandem-Massenspektrometrie (TMS) die Diagnose PKU, wird das Baby sofort auf eine Diät gesetzt, die nur sehr wenig Phenylalanin enthalten darf. Professor Koletzko: „Die Diät muss mindestens bis zum 12. Lebensjahr streng und danach gelockert eingehalten werden. Dann ist eine Schädigung nicht zu befürchten.“

Das Testblatt dient auch zur Fahndung nach einer „Galaktosämie“. Mit dieser Milchzuckerunverträglichkeit muss einmal bei rund 74.000 Geburten gerechnet werden. Auch hier kann dank frühzeitiger Diät eine schwere Schädigung und der Tod betroffener Kinder verhindert werden. Wesentlich seltener, nämlich einmal unter 162.000 Geburten, wird mit dem Test eine „Ahornsirupkrankheit“ entdeckt. Die Therapie besteht aus einer lebenslangen Diät, ohne Behandlung droht der Tod bereits im Säuglingsalter.

Ein schmales Zeitfenster

Die für das Screening benötigte Blutprobe wird im Idealfall am dritten Lebenstag des Babys entnommen, genauer: nicht vor 36 und nicht nach 72 Stunden nach der Geburt des Kindes. Diese strenge Vorgabe kann allerdings zu Problemen führen, heißt es in der aktuellen Stellungnahme der Stiftung Kindergesundheit: Nicht jedes Kind wird in einer Klinik geboren und viele Mütter sind heute schon vor dem dritten Lebenstag mit ihrem Baby wieder zu Hause.

Wird ein Baby schon vor der 36. Lebensstunde entlassen, muss eine erste Probe schon vorher abgenommen und die Eltern auf die Notwendigkeit einer weiteren Blutentnahme am dritten Lebenstag hingewiesen werden. Der Zeitpunkt der Vorsorgeuntersuchung U2 durch den Kinderarzt – bis zum 10. Lebenstag – kann schon zu spät sein und den Erfolg des Screenings beeinträchtigen.

Die Stiftung Kindergesundheit unterstreicht: Es bedarf weiterhin einer engen und verständnisvollen Zusammenarbeit zwischen Gynäkologen und Geburtshelfern, Hebammen und Entbindungspflegern, Kinder- und Jugendärzten sowie Klinikleitungen und Laboratorien, um die erreichte herausragende Qualität des Neugeborenen-Screenings zum Nutzen der Kinder und ihrer Familien auch künftig garantieren zu können.


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