ADHS: Was können Medikamente – was nicht?
Die Begriffe ADHS und ADS stehen für Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit (ADHS) oder ohne Hyperaktivität (ADS). Die wichtigsten Merkmale sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und unbeherrschtes, impulsives Verhalten, ein Gebaren, das im Kinderklassiker „Struwwelpeter“ als „Zappelphilipp“ eindrücklich geschildert wird. ADHS wird auch als Reizfilterschwäche bezeichnet, weil es den Kindern nicht gelingt, wichtige von unwichtigen Sinnesreizen zu trennen. Erste Zeichen der Störung sind oft schon bei Babys zu beobachten und enden nicht mit dem Erwachsenwerden, berichtet die in München ansässige Stiftung Kindergesundheit.
ADHS-Kinder mit Hyperaktivität – hier sind Jungen in der Überzahl – gelten als Zappelphilipp, Störenfried, Unruhegeist oder Raufbold. ADS-Kinder ohne Hyperaktivität sind eher vom Typ „Hans-guck-in-die-Luft“ oder „Träumsuse“ (hier scheint der Anteil der Mädchen deutlich höher zu sein). Diese Kinder trödeln, können nicht richtig zuhören, wirken still, verträumt und übersensibel. Ihre Stimmungen schwanken oft extrem. Sie schalten ihre Ohren „auf Durchzug“, bringen ihre Aufgaben nicht zu Ende, verlieren häufig Spielsachen, Hausaufgaben-Hefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug. Auch Pflichten werden leicht „vergessen“.
„ADHS gilt heute als die häufigste Verhaltensstörung bei Kindern“, sagt der Münchner Kinder- und Jugendarzt Professor Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit. Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS des Robert-Koch-Instituts Berlin ermittelte aus den Daten von 7 569 Jungen und 7 267 Mädchen im Alter von 3 bis 17 Jahren folgende Zahlen: Insgesamt haben 4,8 Prozent aller 3- bis 17-Jährigen eine ärztlich oder psychologisch diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, Jungen mit 7,9 Prozent wesentlich häufiger als Mädchen (1,8 %).
Der große Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht in allen Altersgruppen. Am häufigsten wurde ADHS mit 11,3 % bei den 11- bis 13-jährigen Jungen festgestellt. Bei Kindern aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status wurde ADHS häufiger diagnostiziert (6,4 %) als bei Kindern aus Familien mit mittlerem (5,0 %) und höherem sozioökonomischen Status (3,2 %).
Zu viele „Pillen für den Störenfried“?
Zur Behandlung der ADHS stehen mittlerweile mehrere Medikamente zur Verfügung, darunter insbesondere das seit über 50 Jahren bewährte Stimulans Methylphenidat (MPH) in verschiedenen Formulierungen, sowie ein weiterer Wirkstoff namens Atomoxetin (ATX). Über den Einsatz derartiger Substanzen bei Kindern wird in der Öffentlichkeit immer wieder erregt diskutiert, zumal Methylphenidat („Ritalin“) nur nach der gesonderten Verschreibungspflicht nach dem Betäubungsmittelgesetz verordnet werden darf.
„Der immer wieder wiederholte Vorwurf, aufmerksamkeitsgestörte Kinder werden zu häufig mit Medikamenten behandelt, wird von den ihrer Verantwortung bewussten Kinder- und Jugendärzten sehr ernst genommen“, sagt dazu Professor Koletzko. „Die Verordnungszahlen von Methylphenidat in Deutschland haben sich zwischen 2000 und 2009 zwar tatsächlich vervierfacht. Allerdings bestand hier zu Lande lange Zeit eine ungerechtfertigte Ablehnung der medikamentösen Behandlung und eine Unterversorgung der betroffenen Kinder. Nachdem die Wirksamkeit der medikamentösen Therapie in zahlreichen Studien dokumentiert wurde, gleichen sich die Verordnungszahlen allmählich auch bei uns an die internationalen Trends an“.
Die Pillen „heilen“ das Kind nicht
Eines muss jedoch klar sein: Durch ein Medikament wird die ADHS eines Kindes nicht „geheilt“, die Probleme können aber deutlich verringert werden. Das Medikament ermöglicht dem Kind, „erreichbar“ zu sein für die Erziehungsmaßnahmen der Eltern, für die Korrekturen seines Verhaltens, für die Anforderungen der Schule und für andere eventuell notwendigen Therapien, so die Stiftung Kindergesundheit in ihrer aktuellen Stellungnahme.
Die Experten sind sich deshalb einig: ADHS-Kinder brauchen eine „multimodale“ Therapie, eine individuelle Kombination aus verschiedenen Therapieformen. Notwendig sind dabei Aufklärung und Beratung von Eltern, Kind und Lehrern, psychotherapeutische Maßnahmen einschließlich Familientherapie, Interventionen in der Schule, eine Verhaltenkorrektur des Kindes und, wenn nötig, die Behandlung mit Methylphenidat.
Neue, strengere Richtlinien
Um diese umfassende Betreuung der betroffenen Kinder und ihrer Familien zu erreichen, sind jetzt die Richtlinien zur Verordnung von Stimulantien wie MPH verschärft worden. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten und Krankenkassen G-BA beschloss vor kurzem folgende Einschränkungen:
Die Diagnose von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) darf sich nicht allein auf das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen, sondern sollte auf einer vollständigen Anamnese und Untersuchung des Patienten basieren.
Die Psychostimulanzien dürfen nur von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen verordnet und unter dessen Aufsicht angewendet werden. Diese Spezialisten sind: Fachärzte und Fachärztinnen für Kinder- und Jugendmedizin; Fachärzte und Fachärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie; Fachärzte und Fachärztinnen für Nervenheilkunde, für Neurologie und/oder Psychiatrie oder für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ärztliche Psychotherapeuten mit einer Zusatzqualifikation zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen.
Damit die Versorgung auch in ländlichen Regionen gesichert ist, dürfen in Ausnahmefällen auch Hausärzte Folgeverordnungen vornehmen, aber nur wenn gewährleistet ist, dass die Aufsicht durch einen Spezialisten aus den genannten Berufsgruppen erfolgt.
Die Therapie muss regelmäßig unterbrochen werden, um ihre Auswirkungen auf das Befinden des Kindes beurteilen zu können.
Was die Medikamente wirklich bewirken
Das bei Erwachsenen anregend und euphorisierend wirkende Methylphenidat wirkt bei hyperaktiven Kindern keineswegs aufputschend. Es aktiviert Kontrollzentren im Gehirn, gleicht aus und hilft offenbar dem Gehirn des Kindes, die Umweltimpulse besser zu verarbeiten. Das Medikament verändert das gestörte Verhalten des Kindes oft auf geradezu dramatische Weise: Von einer auf die andere Stunde verwandelt sich der aufgedrehte Raufbold, der seinen Eltern nur Widerworte gibt, für ein paar Stunden in ein verständiges, altersentsprechendes Kind. Die Aufmerksamkeit steigt, das Kind entwickelt mehr Ausdauer, ist nicht mehr so leicht abzulenken und reagiert vernünftig auf Anforderungen.
Diese Verwandlung wird von Kritikern der medikamentösen Behandlung häufig als „chemische Zwangsjacke“ gedeutet, um das Kind auf die Norm der Erwachsenen zu drillen und ruhig zu stellen. Dabei kann von „Ruhigstellen“ nicht die Rede sein, stellt die Stiftung Kindergesundheit richtig: Methylphenidat regt die Tätigkeit bestimmter Gehirnregionen an und beeinflusst das Dopamin-System, das für die Kontrolle von Aktivität und Aufmerksamkeit eine Rolle spielt. In vielen Fällen ermöglicht erst die Einnahme des Medikaments, dass Erziehungsmaßnahmen und auch andere Behandlungsmethoden, zum Beispiel eine Verhaltenstherapie, ihre Wirkung entfalten können.
„Die Wirksamkeit von Methylphenidat und auch von Atomoxetin ist durch zahlreiche Studien belegt“, sagt Kinder- und Jugendarzt Professor Koletzko. „Die beiden Medikamente wirken jedoch unterschiedlich schnell: Während Methylphenidat schon nach wenigen Stunden zur Veränderung der Symptome führt, wird die volle Wirksamkeit von Atomoxetin in der Regel erst nach vier bis sechs Wochen erreicht“.
Am ehesten ist die Kombination einer Verhaltenstherapie mit der medikamentösen Behandlung in der Lage, die belastenden Symptome abzubauen und das soziale Verhalten des Kindes zu verbessern. Die immer wieder empfohlenen Spezialdiäten haben sich dagegen nur bei einer Minderheit der betroffenen Kinder als wirksam erwiesen, betont die Stiftung Kindergesundheit. Für alternative Heilverfahren, z. B. Homöopathie, Bachblüten oder Magnetresonanztherapie fehlt bisher jeglicher Wirkungsnachweis. Das gilt auch für die häufig im Internet angepriesenen angeblichen Wundermittel und -therapien.
Nützliche Informationen finden betroffene Familien im Internet auf den Seiten
www.agadhs.de
www.ads-ev.de
www.adhs.ch
www.ads-hyperaktivitaet.de
www.adhs-deutschland.de
www.kinderaerzte-im-netz.dehttp://www.kinderaerzte-im-netz.de/
Wichtige Erziehungsregeln für Eltern eines Kindes mit ADHS
Nehmen Sie die guten Seiten Ihres Kindes wahr
Bestärken Sie es darin. Das hilft Ihnen auch schwierige Phasen zu überbrücken und dem Kind zu zeigen, dass sie es mögen.
Loben Sie Ihr Kind
Ihrem Kind fällt es schwerer als anderen Kindern, Regeln einzuhalten und Aufgaben zu Ende zu bringen. Loben Sie es deshalb immer, wenn ihm das gelingt. Positive Verstärkung fördert erwünschtes Verhalten. Bereits die Anstrengungsbereitschaft sollte anerkannt werden und auch Teilerfolge.
Stellen Sie klare Regeln auf
Regeln geben Ihrem Kind Halt, Orientierung und Sicherheit. Stellen Sie gemeinsam erfüllbare Familienregeln auf. Setzen Sie klare Grenzen.
Eindeutige Ich-Botschaften
Sprechen Sie klar, eindeutig und dem Kind zugewandt, zum Beispiel: „Ich möchte, dass Du alle Legosteine in die rote Kiste räumst!“ Anschließend kontrollieren! Teilen Sie dabei Aufgaben in kleinere möglichst erfüllbare Abschnitte ein. Also nicht: „Räum dein Zimmer auf!“
Bemühen Sie sich um eine verlässliche Tagesstrukturierung und pflegen Sie Rituale
Dadurch kann sich das Kind im Tagesverlauf besser orientieren und weiß eher, wann welches Verhalten erwünscht ist.
Wenn Ihr Kind eine Regel übertritt, reagieren Sie immer konsequent und unmittelbar
Angemessene negative Sanktionen bei unerwünschtem Verhalten sind z. B. eine Auszeit oder Punkte-Entzug.
Versuchen Sie, Probleme vorherzusehen
Manche Situationen sind bei Kindern mit ADHS besonders problematisch (z. B. Besuch, Hausaufgaben). Vereinbaren Sie vorher rechtzeitig Regeln für diese Situationen und Belohnungen bei Erfolg.
Behalten Sie die Geduld und Übersicht
Haben Sie Verständnis für die Besonderheiten im Verhalten des Kindes. Versuchen Sie ruhig zu bleiben, den inneren Abstand und Geduld zu bewahren.
Nichts erzwingen
Vermeiden sie Diskussionen, wenn die Emotionen überkochen. Geben Sie sich und Ihrem Kind eine Auszeit, verlassen Sie nötigenfalls das Zimmer, um das Problem später mit mehr Gelassenheit zu lösen.
Tun Sie etwas für sich selbst
Kinder mit ADHS kosten viel Kraft. Achten Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse und ausreichend Zeit zur Entspannung. Davon profitiert auch Ihr Kind.
Quelle: AG ADHS Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V.
Stiftung Kindergesundheit
c/o Dr. von Haunersches Kinderspital
Lindwurmstr. 4
D-80337 München